Cover des Buches Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin (ISBN: 9783426507094)
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Rezension zu Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin von Delphine de Vigan

Schleichende Zermürbung

von serendipity3012 vor 7 Jahren

Rezension

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serendipity3012vor 7 Jahren
Schleichende Zermürbung

Mathilde ist 40 und seit nunmehr zehn Jahren alleinerziehende Mutter von drei Söhnen, die inzwischen fast im Teenageralter angekommen sind. Sie hat gelernt, allein zurechtzukommen, hat sich nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes zurückgekämpft ins Leben und ist seit einigen Jahren in einem gutbezahlten Job, der ihr Spaß macht. Doch es hat sich etwas verändert, zuerst unmerklich, dann immer deutlicher. Ihr Vorgesetzter, mit dem sie sich immer gut verstanden hatte, nimmt ihr nach und nach immer mehr Verantwortung, lässt sie unzuverlässig dastehen, weicht allen Versuchen, ein klärendes Gespräch zu führen, aus, redet irgendwann gar nicht mehr mit ihr. Inzwischen ist Mathilde isoliert, niemand traut sich, für sie einzustehen, sich auf ihre Seite zu stellen: Die Kollegen fürchten um ihren eigenen Stand. Mathilde hat lange versucht, die Sache auszusitzen, zunächst so zu tun, als wäre nichts, dann zu zeigen, dass auf sie immer noch Verlass ist und sie nach wie vor gute Arbeit abliefert. Sie hat gehofft, dass sich alles wieder einrenken würde. Ohne Erfolg, inzwischen hat das Mobbing sie völlig aufgerieben. Sie ist immer müde, fahrig, am liebsten würde sie gar nicht mehr ins Büro gehen.

Thibault, zweite Hauptfigur des Romans, befindet sich seit einiger Zeit in einer Beziehung mit Laura – die für sie aber eigentlich gar keine Beziehung ist. Er spürt, dass sie seine Gefühle nicht erwidert, dass es zwischen ihnen wohl nie so werden wird, wie er es sich wünscht. Sie lässt ihn nicht an sich heran, gibt sich oft gleichgültig. Also beschließt er, sich von ihr zu trennen, schweren Herzens.

„Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin“ von Delphine de Vigan setzt ein am Morgen des 20. Mai. Der Tag, an dem Thibault sich von Laura trennt, und zugleich der Tag, an dem, so hofft Mathilde, etwas Einschneidendes passieren soll, so hat es ihr eine Wahrsagerin prophezeit. Eine Wahrsagerin, zu der sie, als sie sich noch „normal“, noch voller Energie gefühlt hat, nie gegangen wäre. Sie kann sich kaum vorstellen, dass sich an diesem Tag wirklich etwas zum Positiven wenden könnte, aber sie hofft, klammert sich ein wenig an diesen Gedanken.

Der Leser folgt beiden Protagonisten durch ihren Tag: Delphine auf dem Weg zu Arbeit, auf dem es zu einigen Verzögerungen kommt, und ins Büro, wo sie nichts Gutes erwartet, Thibault auf seinen Hausbesuchen: Er ist Bereitschaftsarzt. De Vigan schildert den Alltag der beiden sehr ruhig und lässt den Leser so in eine Stimmung gleiten, in der sich wohl auch die Protagonisten befinden: Beide fühlen sich ausgelaugt, amputiert, wie es im Text zwar separat, doch auf beide bezogen, heißt. Beiden fehlt die Energie, sich aufzulehnen: Delphine hat das systematische Mobbing des Vorgesetzten zermürbt, Thibault weiß, dass es richtig war, sich zu trennen, und trauert doch um den Verlust Lauras. So ist es eigentlich nur folgerichtig, dass Delphine und Thibault sich an diesem Tag begegnen werden – oder nicht?

Delphine de Vigan hat mich vor einiger Zeit mit ihrem Roman „Nach einer wahren Geschichte“ bereits überzeugt. Beide Bücher sind recht unterschiedlich, aber es gibt auch Parallelen: In beiden Geschichten steht eine Frau im Mittelpunkt, der nach und nach alle bisherigen Gewissheiten entzogen wurden. Beide sind eigentlich sehr starke, selbstbewusste Frauen (die eher nicht zu einer Wahrsagerin gehen würden, auch nicht in einer Extremsituation – dieser Punkt hat mich nicht überzeugt). Und hier wie da spielt Delphine de Vigan mit den Erwartungen ihrer Leser, wobei dieses Spiel im später erschienenen Roman „Nach einer wahren Geschichte“ sehr viel mehr auf die Spitze getrieben wird als in „Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin“. An diese Verwundbarkeit werden beide Figuren im Roman schmerzlich erinnert.

Delphine de Vigan schafft es sehr gut, zu verdeutlichen, was Mobbing anrichten kann. Die Ohnmacht, die Mathilde fühlt, die Ungerechtigkeit, der sie ausgesetzt ist, das ist schwer zu ertragen, gerade auch, weil die Autorin uns all dies so nüchtern präsentiert. Und Mathilde dann die Schuld auch noch bei sich selbst sucht.

„Sind wir für das verantwortlich, was uns zustößt? Sieht uns das, was uns zustößt, immer irgendwie ähnlich?“[…] „Glauben Sie, man fällt einer Sache zum Opfer, weil man schwach ist, weil man es eigentlich will, weil man sich, auch wenn es unverständlich erscheint, dafür entschieden hat? Glauben Sie, dass sich bestimmte Personen, ohne dass sie es wissen, selbst als Zielscheibe anbieten?“ S. 219

„Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin“ ist ein schmales Buch über zwei Menschen an einem Punkt in ihrem Leben, an dem es so aussieht, als gebe es keine Hoffnung. Zwei Menschen, die sich nicht kennen, sich aber ähneln. Die sich am Ende vielleicht begegnen werden, vielleicht auch nicht. Eine eindringliche Studie darüber, was Mobbing anrichten kann auf der einen Seite und wie eine unerwiderte Liebe aus der Bahn werfen kann auf der anderen.
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