Cover des Buches Die Frauen vom Meer (ISBN: 9783426304556)
EvelynMs avatar
Rezension zu Die Frauen vom Meer von Deniz Selek

Das Leben ist wie ein Spaziergang am Meer

von EvelynM vor 8 Jahren

Kurzmeinung: Ein wundervolles Buch voller Emotionen, starken Frauen und tiefer Eindrücke in fremde Länder

Rezension

EvelynMs avatar
EvelynMvor 8 Jahren

Achtung! Spoiler!

Inhalt:
In der Rahmenhandlung trifft im Mai 1999 in Istanbul die über 70jährige Ferah ihren so schmerzlich vermissten Vater wieder. Die beiden spazieren am Meer entlang bis nach Köstence, wo Ferah geboren wurde und sie bei ihrer Mutter Seza aufwuchs. Ihr Vater kehrte eines Tages nicht mehr von einer Schifffahrt nach Trabzon – seiner Heimatstadt -zurück, als Ferah noch ein Kind war. Ferah und ihr Vater erzählen sich aus ihrer beider Leben, voller Liebe, Vertrauen und auch Trauer über die verlorene Zeit.
Köstence, Oktober 1922
Die Geschichte von Seza, der stolzen und schönen Tatarin, der Deutschen Elisabeth, die Ferahs Sohn geheiratet hat und Ferahs Enkelin Ilayda, die zerrissen zwischen zwei Kulturen lebt, führt den Leser auf eine wunderbare Reise in ferne Länder und an Meere, die alle drei Frauen nicht mehr loslassen.
Sezas glückliches, gewohntes und auch privilegiertes Leben nimmt eine Wendung, als ihr Großvater die Rosenfabrik in Balčık/Bulgarien verkaufen muss und die Familie nach Köstence/Rumänien zieht. Als sie Sercan, der als Handelskapitän seinen Lebensunterhalt bestreitet und aus Trabzon/Türkei stammt, heiratet, steht ihr die nächste Veränderung bevor: sie zieht bei ihrer Tante und Witwe Abide und deren behinderten Tochter Rahmanie ein. Während Sercan auf dem Meer unterwegs ist, muss sich Seza gegen die Schikanen ihrer Tante wehren und ist ihrem Neid ausgesetzt, da Seza im Gegensatz zu ihr eine gesunde Tochter (Ferah) geboren hat. Als Sercan Seza eines Tages verspricht, sie endlich mit zu seiner Familie nach Trabzon zu nehmen, flammt ihre Hoffnung auf ein besseres Leben in einem eigenen Haus auf. Doch Sercan kehrt nie wieder zu Seza und Ferah und so macht sich Seza mit Ferah in Begleitung ihrer Nachbarn Cemil und Fadime und deren Zwillingstöchter auf nach Ankara, in ein unbekanntes, ungewisses Leben. Es belastet sie, dass sie Rahmanie nicht mitnehmen kann. Diese wurde von Abide in ein Heim gegen, damit sie einen neuen Mann heiraten und endlich das Haus ihres verstorbenen Mannes übernehmen kann. Als stolze Tatarin hat es Seza nicht leicht in der Fremde, wo eine Frau zu dieser Zeit kein selbstbestimmtes Leben führen kann. So bekommt sie immer wieder Ärger mit der Familie und den Freunden ihres zweiten Mannes. Bis sie sich schließlich in ihr Schicksal fügt, sich den Traditionen beugt und dabei immer mehr von ihrer Persönlichkeit aufgibt. So wird sie für ihre Umwelt immer seltsamer.
Berlin, August 1942
Julie bringt im kriegsgebeutelten Berlin ihre Tochter Elisabeth zur Welt, während ihr Mann an der Front kämpft und Bomben auf die Stadt fallen. Elisabeth ist ein so zartes Kind, dass selbst Julie nicht an ihr Überleben glaubt. Doch Elisabeth ist zäh und so reist Julie mit ihr zu ihrer Mutter nach Stolpmünde in Pommern an die Ostsee, um sich in Sicherheit zu bringen. Auf dem Land wächst Elisabeth bei ihrer Mutter, Großmutter und ihren beiden Tanten sehr frei auf. Ihren Vater Bernhard kennt sie kaum und dennoch versucht er bei ihrer Erziehung strengere Maßstäbe anzusetzen. Viel zu früh verliert Elisabeth ihre Mutter und als sie Ferahs Sohn, Haldun trifft, wird sie von seinem fremdartigen Aussehen und seinem widersprüchlichen Charakter magisch angezogen. Bei einem Urlaub bei seiner Familie in Istanbul werden ihr die kulturellen Unterschiede schmerzlich bewusst, da sich Halduns Verhalten ihr gegenüber sehr verändert. Er ist zunehmend kühler und geht auf Abstand zu ihr. Seine Mutter Ferah und seine Schwester Lâl nehmen sie herzlich auf, nur Halduns Vater Burak bleibt verschlossen und unnahbar.
Obwohl sich Elisabeth nach der Reise zunächst von Haldun trennt, kehrt sie nicht nur zu ihm zurück und heiratet ihn, sondern zieht mit ihm zu seiner Familie nach Istanbul.
Istanbul, Juni 1969
Allerdings hat Halduns Vater seinen eigenen Sohn an die Behörden verraten und so muss Haldun seinen Militärdienst in der Türkei ableisten. So findet sich Elisabeth mit ihrer Tochter Ilayda in einer fremden Kultur wieder. Es fällt ihr schwer, sich der Familie unterzuordnen und die Gepflogenheiten scheinen ihr unsinnig und ungerecht zu sein. Der Kontakt zu ihrer Familie in Deutschland wird immer weniger und Elisabeth immer dünner. Eines Tages begegnet sie einer anderen deutschen Frau, Trudi, die mit ähnlichen Anpassungsschwierigkeiten zu kämpfen hat. Die beiden freunden sich an und gehen täglich mit ihren Kindern spazieren. So hat sie in der Fremde ein Stück Heimat in Trudi gefunden. Da Haldun nicht genügend Geld verdient, können er und Elisabeth sich keine eigene Wohnung leisten und das ändert sich auch nicht mit dem Tod seines Vaters. Als Haldun seinen Kredit für sein Architekturstudium zurückzahlen soll, zieht die kleine Familie kurzerhand nach Deutschland, sehr zur Freude Elisabeths und zum Leidwesen von Ilayda.
Durch die Rückkehr nach Deutschland wird Ilayda aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen, sie verliert ihre Freunde, ihre Freiheit und die besondere Aufmerksamkeit, die ihr in Istanbul durch ihre helle Haut und ihre blonden Haare entgegengebracht wurde. In Berlin ist nur ihr Name ungewöhnlich und trotz ihrer Bemühungen findet sie kaum Anschluss. So beginnt sie, ihre türkischen Wurzeln zu verleugnen, spricht nur noch Deutsch und fügt sich in ihr neues Leben. So versucht sie, sich der Liebe ihrer Mutter zu versichern und enttäuscht andererseits ihren Vater. Ihr größtes Glück findet sie in den Besuchen bei ihrer Großmutter in Istanbul. Dort ist ihr Herz zuhause und als in Berlin ihr Leben aus dem Ruder zu laufen droht, schickt ihr Vater sie für ein paar Monate genau dorthin. Hin- und hergerissen zwischen den beiden Kulturen ihrer Eltern entdeckt Ilayda, dass ihr das Leben in Istanbul zunehmen bekommt und sie genießt ihr Leben. Mit Defne, einer Freundin aus Kindertagen geht sie aus und lernt auch einen türkischen Mann kennen, der ihr jedoch indirekt klar macht, dass sie für ein Leben an seiner Seite nicht geschaffen ist. Nach einer Affäre mit einem Werbefilmproduzenten wird ihre Sehnsucht nach Deutschland, ihren Eltern und ihrer Freundin Rachel groß und sie kehrt nach Berlin zurück, wo sie die Schule beendet. Ein halbherzig begonnenes Studium, diverse Jobs, 3 Jahre mit ihrem Freund Rafa auf Reisen machen sie nicht glücklich und schließlich beginnt sie ein Grafik-Design-Studium. Als sie Alexander kennenlernt und schwanger wird, stellt das ihr Leben erneut auf den Kopf. Doch sie freut sich auf das Kind und stimmt sogar Alexanders Vorschlägen zu einer Arbeits- und Wohngemeinschaft auf einem renovierungsbedürftigen Hof zu. Eines Tages lädt ihre Mutter Elisabeth die hochschwangere Ilayda auf eine Reise in die Türkei ein und macht ein Geheimnis aus dem Ziel. In einem von ihrem Vater Haldun neu erworbenen Ferienhaus am Meer treffen sie Ferah und die drei Frauen verbringen gemeinsam glückliche Tage.

Fazit:
Der rote Heißluftballon und die Möwen haben mich ebenso über die Meere der Frauen getragen, wie Deniz Selek eindrückliche, liebevolle Sprache, die Farben ihrer Stadt Istanbul, das Kämpfen der Frauen um ihre Freiheit, ihre Liebe und ihr Leben. Der Klang des Muezzin auf seinem Minarett, das Wispern des Windes, das Schaukeln des Meeres, der Duft der Pinien und Gewürze haben mich in eine andere, bunte, laute und faszinierende Welt entführt. Was kann man sich mehr von einem Buch wünschen, als sich aus dem Alltag wegzuträumen? Das ist Deniz Selek mit ihrem Buch wunderbar und vor allem auch sehr stilvoll und eindrücklich gelungen. Ihre warme Sprache lässt fremde Länder, Meere, Menschen und Emotionen entstehen und hinterlässt das Gefühl, mit der letzten Zeile Freunde zu verlieren. Ein Meer von Farben, Emotionen und Eindrücken rollt wie eine Welle über den Leser, wenn Deniz Selek Ferah, Elisabeth und Ilayda vom Meer erzählen lässt. Auch aus Deniz Schreibstil und Sprachgestaltung lässt sich ihre eigene Liebe zum Meer erkennen. Sonst könnte sie die vielen Facetten des Meeres und seines Wesens gar nicht so liebevoll und detailreich beschreiben. Auch die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland, Rumänien und der Türkei werden dem Leser ganz eindrücklich nahe gebracht und ich finde es sehr schön und stimmig, dass türkische Wörter bzw. ganze Phrasen in die Erzählung einfließen. Durch Ferahs Beschreibung des Alltags einer Frau in der Türkei bekommt man einen guten Einblick, wie sehr die Frauen doch ans Haus und an ihre Familie gebunden sind. Manchmal war ich richtig wütend auf die engstirnigen Männer, über so manche Ungerechtigkeit, die den Frauen widerfahren ist und traurig, dass Seza und Julie geliebte Menschen (Seza – Rahmanie und Julie – ihre Schwiegereltern) zurücklassen mussten. Selten fällt es mir so schwer, ein Buch zur Seite zu legen. Doch „Die Frauen vom Meer“ habe ich ständig bei mir getragen und in jeder freien Minute gelesen. Ich habe richtig mitgelitten und gebangt und zum Ende hin wollte ich gar nicht mehr weiterlesen, denn das würde schließlich im Ende der Geschichte münden.
Das Buch erzählt meiner Meinung nach nicht nur von 3 Generationen Frauen sondern von 4 – Ferah spielt in deren Leben auch eine große Rolle und nicht nur die der Erzählerin.

Sezas Schicksal und ihr „Ende“ in einer geschlossenen Anstalt haben mich sehr getroffen.
Ihren Mut, ohne Mann und Geld mit ihrer Tochter ein neues Leben am anderen Ende der Welt zu beginnen, bewundere ich sehr. Eine starke Frau! Wie wenig Rechte und Freiheiten die Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten, ist schon erschreckend. Von Selbstverwirklichung konnte hier noch keine Rede sein.

Durch das Nachwort wurde mir erst klar, dass Deniz Selek ihre eigene Familiengeschichte eingebracht hat, was das „Die Frauen vom Meer“ noch viel persönlicher und emotionaler macht.

Das Buch ist vom Cover, über die Gestaltung der Kapitel bis zu der Erzählung einfach gelungen und wunderschön. Ich bin begeistert! Schade, dass ich nur 5 Sterne vergeben darf.

Ich möchte meine Rezension gerne mit einem Zitat von Elisabeth über ihren Vergleich des Lebens mit einem Spaziergang am Meer beenden, womit das ganze Buch wunderbar zusammengefasst werden kann: „Erst leicht und sorglos, dann immer beschwerlicher, kräftezehrender, und trotzdem voll kleiner und großer Schätze, die unverhofft aufblitzen.“

Angehängte Bücher und Autor*innen einblenden (2)

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks