Rezension zu "First Bourbon: Henri IV of France and Navarre" von Desmond Seward
Desmond Seward (geb. 1935) gehört zu den bekanntesten und produktivsten Vertretern eines Genres, das man in Großbritannien "popular history" nennt. Im Lauf seiner langen Tätigkeit als Autor hat Seward mehr als 20 Biographien und Sachbücher veröffentlicht, die sich an historisch interessierte Laien richten. Bemerkenswert ist die thematische Bandbreite: Unter Sewards Werken finden sich Bücher über den Hundertjährigen Krieg und die Rosenkriege ebenso wie Biographien über Marie Antoinette, Metternich und Kaiserin Eugénie. Eine solche Vielseitigkeit ist nur möglich, wenn man sich als Autor auf die Rezeption der Sekundärliteratur beschränkt und veröffentlichte Quellen verwendet. Archivrecherchen und die Arbeit mit unveröffentlichten Quellen wären zu aufwendig und in Anbetracht des Zielpublikums auch gar nicht notwendig.
Zu Sewards frühen Büchern gehört eine Biographie Heinrichs IV. von Frankreich (1553-1610), des ersten Bourbonen auf dem französischen Thron. Die Biographie ist zuerst 1971 erschienen und wurde 2013 neu aufgelegt. Da ein Vorwort fehlt, bleibt unklar, was den Autor und den Verlag dazu bewogen hat, ein so altes Buch neu aufzulegen, noch dazu ohne jede inhaltliche Überarbeitung und ohne aktualisierte Bibliographie. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass ein populärwissenschaftliches Buch nach vier Jahrzehnten eine Neuauflage erfährt. Die Forschung zur französischen Geschichte des 16. und frühen 17. Jahrhunderts ist seit 1971 nicht stehengeblieben. Sewards Buch spiegelt den Forschungsstand der späten 1960er Jahre wider. Das sollte jeder bedenken, der es heute zur Hand nimmt.
Was Heinrichs Persönlichkeit, Werdegang und Herrschaft betrifft, so spielt Seward viele bekannte Motive und Themen durch: Südfranzösisches Temperament; Charme, Jovialität und Volksnähe; Genussmenschentum und unstillbare sinnliche Gier; Kindheit und Jugend vor dem Hintergrund der konfessionellen Konflikte zwischen Katholiken und Hugenotten; mehrfache Religionswechsel; langer Kampf um die Anerkennung als König nach dem Aussterben des Hauses Valois; Wiederaufbau Frankreichs nach fast 40 Jahren Bürgerkrieg. Sewards Darstellung ist farbig, schwungvoll, kurzweilig und anekdotenreich, bewegt sich aber durchweg an der Oberfläche. Über Heinrichs Mätressenwirtschaft erfährt man mehr als über seine Herrschaft. Mehr Ernsthaftigkeit und Tiefgang hätten nicht geschadet. Der Text fällt mit 200 Seiten recht schlank aus. Das dramatische und ereignisreiche Leben Heinrichs IV. hätte durchaus mehr Raum verdient.
Man merkt dem Buch an, dass es vor langer Zeit geschrieben wurde, für ein gut gebildetes Publikum, das längst nicht mehr existiert. Der Text ist mit zahllosen Anspielungen auf Personen oder literarische Werke gespickt, die viele heutige Leser nicht verstehen dürften, vor allem wenn ihnen solides Vorwissen zur Geschichte Frankreichs im Zeitalter der Religionskriege fehlt. Seward streut immer wieder französische Zitate ein, die fast ausnahmslos unübersetzt bleiben. Dem Text hätte eine behutsame sprachliche Modernisierung nicht geschadet, denn Sewards Vokabular wirkt bisweilen preziös und altertümlich. Begriffe wie "catamite", "farthingale" oder "poltroon" sind in heutigen Englischwörterbüchern nicht mehr zu finden. Das Layout des Buches lässt zu wünschen übrig. Die Kapitel 4 bis 8 beginnen nicht auf den Seiten, die im Inhaltsverzeichnis angegeben sind. Es fehlt ein Register.
Mit dieser Kritik ist nicht gesagt, dass das Buch gar keinen Wert hätte. Seward arbeitet die bedeutenden historischen Verdienste Heinrichs IV. heraus: Der König gab Frankreich Frieden und Stabilität zurück. Heinrich IV. war kein Erneuerer oder Reformer, sondern stellte die "gute alte Ordnung" wieder her. Dies und sein Pragmatismus in Religionsfragen machten ihn für lange Zeit zum populärsten französischen König. Heute steht Heinrich IV. im Schatten seines Enkels, Ludwigs XIV. Den Unterschied zwischen Großvater und Enkel bringt Seward elegant auf den Punkt: Der Sonnenkönig verkörpere Frankreich, Heinrich IV. hingegen die Franzosen - mit all ihren Tugenden und Lastern. Oder um es in den Worten der Madame de Staël auszudrücken, die Seward zitiert: "Er war der französischste aller französischen Könige."
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im April 2014 auf Amazon gepostet)