Der Nomade des 21. Jahrhunderts, den Spengler bereits nach dem Ende des Ersten Weltkrieges prophezeite, vollstreckt den „Untergang des Abendlandes“ ohne das geringste Bedauern. Denn das Abendland – das waren die Talaren mit dem Muff von tausend Jahren. Ein Relikt des Mittelalters. Geistiger Ballast, der seit der Antike aufgetürmt wurde und einen leicht erdrücken kann. Eine babylonische Bibliothek, in der man sich schnell verirrt. Abendland – das hieß: Man muss auf die Schultern literarischer Riesen klettern, um eine angemessene Größe zu erreichen. Wie viele sind dabei abgestürzt?
Im Abendland wurden von Augustinus bis Goethe Fragen gestellt, die für das, was heute zählt, irrelevant sind. Was nützt es einem Broker an der Börse, das Theodizee-Problem zu lösen oder die Dialektik des Weltgeistes zu ergründen? Der postmoderne Individualist ist mit leichtem Gepäck unterwegs und zwar aus gutem Grund, denn man bezahlt ihn dafür, dass er möglichst mobil und flexibel auf ständig neue Herausforderungen reagiert.
Dieser Nomade, der jenseits von Eden unterwegs ist, auf der Jagd nach El Dorado – er denkt wie jener unterkühlte und stets berechnende lonely wolf, den Robert de Niro in Michael Manns Thriller Heat spielt. Sein Überlebensmotto lautet: „Du darfst dich an nichts binden. Du musst alles innerhalb von 30 Sekunden zurücklassen können.“ When you feel the heat around the corner, dann ist es Zeit zu gehen. Instinkt ist alles.
Ein solcher Menschentypus entsteht in der Anonymität von Metropolen, die einander immer ähnlicher werden. „Man kann gehen, wohin man will“, schrieb Oswald Spengler, „man trifft Berlin, London und New York überall wieder“.
Rezension zu "Der Untergang des Abendlandes" von Oswald A. G. Spengler