„[...] Ich erzähle Ihnen das alles, Inspecteur, obwohl es offiziell nie passiert ist. Keinerlei Beweise. Keinerlei Spuren dieser 48 Leichen: Die Gerichtsmedizin hat für jeden einzelnen Todesfall eine reale und plausible Ursache gefunden. Ab in die Versenkung der Geschichte. Und es ist für alle Welt besser , daß sie auch dort bleiben! Kommen Sie nicht auf die Idee, die wieder ans Licht zu zerren; die werden es wie Dracula machen und mit ihrem Blut zu neuem Leben erwachen.“ (S.94)
Der junge Historiker Bernard Thiraud aus Paris recherchiert im Stadtarchiv von Toulouse. Als er abends das Archiv verlässt, wird er auf dem Weg ins Hotel erschossen. Inspektor Cadin tut sich extrem schwer bei seinen Ermittlungen, da er zunächst kein Motiv erkennen kann. Doch dann findet er heraus, dass zwanzig Jahre zuvor auch der Vater des Opfers, der Geschichtslehrer Roger Thiraud, während der Demonstrationen gegen den Algerienkrieg erschossen wurde.
Diese Koinzidenz lässt Cadin nicht los und er beginnt zu ermitteln, denn er vermutet richtigerweise eine Parallele zwischen beiden Morden. Über einen befreundeten Kollegen beim Staatsschutz gelangt er in den Besitz brisanter Informationen. Von allen Seiten gewarnt, kann Cadin aber nicht von seinen Ermittlungen lassen, die ihn selbst in Gefahr bringen könnten.
Dieser Roman ist nicht einfach nur ein Krimi, sondern ein politisches Statement. Autor Didier Daeninckx griff gleich zwei brisante Themen auf, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans in der französischen Gesellschaft noch stark tabuisiert waren (und in konservativen Kreisen bis heute sind). Zum einen das Massaker von Paris vom 17.Oktober 1961: Tausende Algerier demonstrierten friedlich für die Unabhängigkeit ihres Landes und gegen die Ausgangssperre, die über sie verhängt wurde. Die Polizeikräfte erhielten den Befehl, die Demonstrationen gewaltsam aufzulösen – auch unter Anwendung der Schusswaffen. Die Zahl der Getöteten konnte nie genau ermittelt werden, auf jeden Fall waren es wohl mehr als 100, wahrscheinlich erheblich mehr. Die Polizeikräfte konnten jahrelang das Ausmaß vertuschen, offziell waren nur drei Personen gestorben. Das Massaker wurde erst 2012 durch Staatspräsident Hollande eingeräumt und verurteilt. Das zweite Thema ist die Beteiligung französischer Beamter am Holocaust. Einige Kollaborateure waren durchaus willfährig und emsig in der Durchführung der Deportation franzözischer Juden.
Der Roman erschien im Dezember 1983 in der berühmten „Série Noire“ bei Gallimard und markierte den endgültigen Durchbruch von Didier Daeninckx. Der Autor arbeitete zunächst als Druckereiarbeiter und in der Jugendsozialarbeit, ehe er sich dem Journalismus und der Schriftstellerei widmete. Nach „Meurtres pour mémoire“ entwickelte sich Daeninckx zu einem der wichtigsten und erfolgreichsten Autoren des französischen Krimis. Die damalige Veröffentlichung fiel zeitgleich in die Affäre um Maurice Papon. Der Spitzenbeamte und Politiker war während des Vichy-Regimes ein Kollaborateur bei der Deportation von Juden und war später als Polizeipräfekt von Paris mitverantwortlich für den Schießbefehl am 17.Oktober 1961. Nach dem Machtwechsel durch Mitterrand 1981 verlor er seine Ämter. Die Satirezeitung „Le Canard enchaîné” brachte im gleichen Jahr in einer Enthüllungsstory Beweise über Papons Verstrickung in den Holocaust. Die Affäre schwelte lange, erst 1998 wurde er zu zehn Jahren Haft verurteilt, von denen er schließlich nur drei Jahre absitzen musste.
Jetzt habe ich hier sehr ausführlich die geschichtlichen Hintergründe ausgeführt, die allerdings auch sehr bedeutsam für dieses Buch sind. „Bei Erinnerung Mord“ beginnt sehr intensiv mit den Ereignissen am 17.Oktober 1961 und der Ermordung von Roger Thiraud. Danach wird die Erzählweise etwas karg, funktionell und präzise, allerdings durchaus gespickt mit ironisch-satirischen Elementen über die Polizeiarbeit. Ein wenig hat man das Gefühl, dass Daeninckx manches dem Plot unterordnet, die Figuren zum Beispiel bleiben teilweise etwas blass. Das ist aber im Endeffekt aus meiner Sicht nicht schlimm, denn man merkt, dass der Autor eine Agenda hat und diese konsequent an den Leser bringt. Und das können ja weiß Gott nicht alle Krimiautoren von sich behaupten.