Haiku-Übersetzungen ins Deutsche können nicht alle Aspekte des japanischen Originals berücksichtigen. Ein Übersetzer muss sich entscheiden, welche Aspekte des Haiku er vermitteln und welche er ignorieren will. Das ist natürlich Geschmackssache und deshalb gibt es nicht die eine, beste Haiku-Übersetzung.
Ich habe den Eindruck, dass Dietrich Krusche bei seinen Übersetzungen vor allem die Nähe des Haiku zum Zen bewahren wollte, eine Nähe, auf die er in seinem sehr informativen Nachwort hinweist. Krusche verzichtet oft auf das klassische Siebzehnsilbenschema, vermutlich um den Eindruck der Kürze und die Unmittelbarkeit der Haiku zu erhalten. Man sieht das gut an diesem Haiku von Issa:
Ein Mensch
und eine Fliege
im Raum.
Was Krusche durch seinen Verzicht auf das Siebzehnsilbenschema (und vielleicht auch auf anderes) gewinnt, zeigen folgende Übersetzungen eines Haiku von Basho:
Gräser des Sommers!
Von all den stolzen Kriegern –
die Reste des Traums.
(Übersetzung von Ralph-Rainer Wuthenow im klassischen 5-7-5-Schema)
Sommergras
ist alles, was geblieben ist
vom Traum des Kriegers
(Freiere Übersetzung von Dietrich Krusche)
Wuthenow kritisiert Krusches Übersetzung folgendermaßen: „Die zu starke, gänzlich unjapanische, zumindest nicht haikuhafte, Verbalisierung tilgt Bruch und Spannung und zerstört alles Schwebende.“ (in Matsuo Basho, Hundertundelf Haiku, S. Fischer) Ich glaube, dass man Wuthenows Kritik nicht zu schwer nehmen sollte. Seine Übersetzung mag dem Japanischen näher sein. Krusches Übersetzung aber vermittelt mir eher ein Gefühl der Stille und erklärt mir, was „Hier und Jetzt“ bedeuten könnte. Ich weiß nicht, ob es das ist, was Basho wollte, aber ich finde das gut und deswegen mag ich Krusches Übersetzungen. Ähnlich ansprechende Übersetzungen fand ich übrigens in Tom Lowenstein: Klassische Haiku, Librero (ISBN 978-90-8998-571-2).