Rezension zu "1974" von Dietrich Schulze-Marmeling
Was man nicht alles mit einer gewonnenen Weltmeisterschaft in Verbindung bringen kann, ist schon erstaunlich. Hätten die Niederländer 1974 gewonnen, wäre das völlig in Ordnung gewesen. Aber Geschichte ist immer die Geschichte der Sieger. Und da Deutschland knapp gesiegt hatte, wird die Weltmeisterschaft aus dieser Perspektive erzählt. Kaum jemand erinnert sich noch, wenn er es überhaupt kann, an die tatsächlichen Umstände. Das kann man mit diesem Buch nachholen oder überhaupt erst verstehen. Es ist schon verblüffend, wie gut es den beiden Autoren gelingt, die Monate vor der Weltmeisterschaft und das Turnier selbst zu schildern.
Vielleicht sehen das Menschen, die die Ereignisse damals nicht miterlebt haben, anders, weil sie den Vergleich nicht haben, keine Erinnerungen besitzen. Mich hat jedoch erstaunt, wie diese Zeit wieder vor meinem geistigen Auge auftauchte. Und das verdanke ich den tagebuchartigen Berichten dieses Textes. Wer allerdings allein auf Statistiken und kalte Fakten orientiert sein sollte, dem wird dieses Buch weniger gefallen. Es versucht die Stimmung wiederzugeben, in dem sich das Land und die Mannschaft befanden. Und das gelingt ihm sehr gut. Wenn man sich dafür allerdings weniger interessiert, wird man sich vielleicht langweilen.
Natürlich kann man auch eine Menge aus dem Text lernen. Zum Beispiel, dass es eine Konstante im deutschen Fußball gibt: Die Unfähigkeit des DFB und seiner meist wenig intelligenten Funktionäre. In der Gegenwart werden Verträge mit Trainern verlängert, die keine Zukunft besitzen. Es wird die richtige Haltung mit einer Binde demonstriert, das "National" an der Mannschaft gestrichen oder sonstiger (oft teurer Unfug) betrieben. Damals, so liest man es im Buch, gab es Sexverbote, drakonische Freiheitsbeschränkungen für die Spieler in Vorbereitung auf die WM, und anschließend wurden die Spielerfrauen von der Siegesfeier ausgeschlossen. Die Selbstherrlichkeit der DFB-Funktionäre war und ist wirklich verblüffend.
Selbstherrlich ist auch das Stichwort für die Mannschaft und einige Spieler. Nur so ging das Prestigespiel gegen die DDR verloren, was immerhin wenigstens ein Wachmacher war. Am Ende stand der WM-Sieg, verdient oder auch nicht. Mit dem deutschen Sieg ging allerdings unter, dass die Holländer den Fußball tatsächlich revolutioniert hatten, was in der Folge Spanien zu Erfolgen führte, denn dort wurde der "totale Fußball" hin exportiert. So wurde der FC Barcelona groß gemacht.
Das ist allerdings ein anderes Thema. In diesem Buch geht es vorrangig um den deutschen Erfolg, der aber jedoch erwartbar kurzlebig war, weil er weder von einer Idee, noch von einer wirklichen Mannschaft getragen wurde.
Das Buch zu bewerten, fällt mir etwas schwer, weil ich vermute, dass die Herangehensweise nicht jedem gefallen wird. Wenn man sie akzeptiert, ist es ein gelungenes Buch.