„Meine Mutter, die dort auf dem Sofa saß, las seit Tagen die Seite vierundzwanzig. […] Zwar war sie über Nacht gealtert, aber jetzt saß sie ganz ruhig auf dem Sofa und las Seite vierundzwanzig.“ (S. 74/75)
Ein stiller Roman, in dem Traumbilder und Gefühle, Gedanken und Geschichten aus Syrien, die wahr oder sogar autobiographisch sein oder auch symbolisch für das Leiden vieler stehen können, im Mittelpunkt stehen. Auf sehr eindrucksvolle Weise gelingt es der in Damaskus geborenen Autorin, das Leben in Syrien unter dem Assad-Regime und die Risse, die unter dem Staatsterror durch die Familien gehen, fühlbar zu machen.
Die Last, die das Leben den Menschen in diesem Roman aufbürdet, ist enorm – von Unfällen, unglücklichen Ehen, schweren Krankheiten, Tod des Vaters bis hin zu den späten Folgen des Hama-Massakers (1982), ständiger Angst vor Verfolgung, Beobachtung und Verhaftung und einem Bruder, der verschwindet und von dem man wünscht, er sei tot, weil selbst das besser wäre, als ihn in langer Folter zu wissen ... Und immer wieder die Angst sowie die Angst vor der Angst. Das Angstthema wird ohne große dramatische oder blutige Szenen so anschaulich vermittelt, dass es mir während des Lesens definitiv nicht gut ging.
Was macht wohl diese Angst mit den Menschen und gibt es überhaupt eine richtige Art, mit ihr umzugehen – angstlösende Medikamente, Entwicklung von Ticks, innere Emigration, Auflehnung, die mit dem Leben bezahlt wird, sind einige der Folgen für die Handlungsfiguren ... Die Geschichte ist umso trauriger und erschütternder, da sie so authentisch wirkt.
Dabei spielt gerade die Frage der Fiktion und der individuellen Geschichten, die für die Geschichte so vieler stehen, eine große Rolle in diesem Roman, in dem sich die Hauptfigur Sulaima in den Schriftsteller Nassim verliebt, dem sie im Wartezimmer eines Arztes begegnet, den beide wegen ihrer Angststörung aufsuchen. Eines Tages, die Liebesgeschichte (die ich leider nicht ganz nachvollziehen konnte, aber das geht mir bei Liebesgeschichten leider oft so) scheint bereits ein frühes Ende gefunden zu haben, findet sie ein Manuskript von Nassim, das von einer anderen Frau zu handeln scheint und doch auch ihre eigene Geschichte erzählt ... Und auch die reale Geschichte der Autorin Dima Wannous scheint zumindest als Inspirationsquelle für diesen Roman gedient zu haben.
Der Schreibstil ist sehr zart, poetisch und packend zugleich. Dabei ist der Erzählstil eher bildreich und weniger handlungsbasiert. Er ließ mich mitfühlen und weckte in mir immer wieder den Wunsch, die Figuren tröstend zu umarmen (dabei bin ich generell kein Fan von Umarmungen). Das ist natürlich auch der Übersetzerin Larissa Bender zu verdanken, die nicht nur für eine schöne, elegante deutsche Version gesorgt hat, sondern auch in einem Nachwort viele wissenswerte Informationen zur jüngeren Geschichte Syriens und zur Autorin zusammengetragen hat.
Auch die Covergestaltung hat mich überzeugt, weil sie anscheinend (und das ist ja leider nicht immer der Fall) in Kenntnis der Erzählung entworfen wurde. So meine ich auf dem Cover jene herumwirbelnde arabische Buchstaben zu erkennen, in die sich für Sulaima Nassims Worte auflösen, wenn sie mit ihm telefoniert.
Nicht einfach zu lesen, aber auf jeden Fall lesenswert!