Cover des Buches Unsere Namen (ISBN: 9783036957029)
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Rezension zu Unsere Namen von Dinaw Mengestu

Von verlorenen Identitäten

von Wortwelten vor 9 Jahren

Kurzmeinung: Vielseitiger und kluger Roman um Identität, Freundschaft und Liebe in Zeiten des Umbruchs, nur mitunter etwas zu nüchtern geschrieben.

Rezension

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Wortweltenvor 9 Jahren

Wir waren die ganze Zeit nur die Hälfte dessen gewesen, was wir hätten sein können.
(S. 310)

Eine amerikanische Kleinstadt in den siebziger Jahren. Rassismus ist noch immer stark präsent, als die Sozialarbeiterin Helen den verschwiegenen Studenten Isaac aus Uganda betreut, der für ein Jahr ein Stipendium für die USA erhalten hat. Obwohl die beiden so unterschiedlich sind und Isaac kaum etwas über sich preisgibt, verlieben sich die beiden ineinander.

Verglichen mit meinen übrigen Mitmenschen, war Isaac fast gar nicht vorhanden, kein Geist, sondern ein schemenhafter Umriss, den ich verzweifelt auszumalen versuchte. (S. 31)

Ein paar Monate zuvor: Isaac reist aus einem winzigen äthiopischen Dorf nach Kampala, der Hauptstadt Ugandas, in der sich einige Jahre nach der Befreiung von der britischen Kolonialherrschaft ein diktatorisches Regime breitgemacht hat. Noch heißt Isaac nicht Isaac, er ist nur ein namenloser Junge, der Englisch aus viktorianischen Romanen lernte und vorgibt, Student zu sein, um irgendwo dazugehören zu können. Auf dem Universitätscampus trifft er auf den eigentlichen Isaac. Dieser ist forsch und selbstbewusst, jemand, der sich nicht scheut, an den vorherrschenden Repressionen Kritik auszuüben. Trotz ihrer Gegensätze entsteht zwischen den beiden eine tiefe Freundschaft.

Wir waren wie zwei Menschen, die sich unerwartet mitten in der Wüste begegneten, nachdem in Wochen der Einsamkeit die Überzeugung in ihnen gereift war, die Welt wäre ein unbewohnter Ort. (S. 13)

Auf diesen beiden Handlungs- und Zeitebenen erzählt der Autor Isaacs Geschichte und seine Entwicklung von einem jungen Mann, der nichts von der Welt gesehen hat außer seinem Dorf und davon träumt, Schriftsteller zu werden, zu einem verschlossenen Menschen, der nirgendwo hin gehört und in dessen Erinnerung sich die Grausamkeiten des Krieges eingebrannt haben. Isaacs wirklichen Namen erfährt der Leser nicht. Weder Uganda noch die USA sind sein Heimatland, seine Zugehörigkeit wurzelt eher in den Menschen, die er kennen- und liebenlernt, wie den eigentlichen Isaac in Uganda und die etwas weltfremde Helen in den USA. Doch diese Zugehörigkeiten sind fragil, sie bilden immer nur einen Spiegel der Gegenwart, der nichts von dem reflektiert, was vorher war oder später sein könnte.

Isaac kannte weder die Vorteile noch die Nachteile eines Lebens in unmittelbarer Nähe zur eigenen Vergangenheit. Worum ich ihn ganz sicher nicht beneidete, war die besondere Art von Einsamkeit, die daher rührte, nichts wirklich sein Eigen nennen zu können. (S. 33)

Hautnah erlebt Isaac die Veränderungen in dem afrikanischen Staat mit, den Beginn einer Revolution, die mit dem Versprechen von Freiheit beginnt und mit denselben Machtkämpfen und blutigen Auseinandersetzungen ausgetragen wird, wie sie wohl jedem Krieg innewohnen. Bewusst verzichtet der Autor hier auf historische Präzision, vielmehr dienen Isaacs Erlebnisse, dessen erste schriftstellerischen Versuche mit der Dokumentation der Revolutionsbewegung beginnen, als Beispiel für so viele unsinnige Machtkämpfe, für so viele Kriege, die nur mit leeren Versprechungen geführt werden und die vielmehr eine Plattform sind für diejenigen, die sie planen. Dazwischen werden Menschenleben zerrieben und Identitäten aufgelöst.

Warum war mir vorher nie aufgefallen, wie viel Leere es in einem menschlichen Leben gab, Leere, die gefüllt werden musste? (S. 107)

Aus Helens Perspektive wird parallel zu der Handlung in Uganda Isaacs Ankunft in den USA beschrieben, der Beginn ihrer Liebesbeziehung und die Unmöglichkeit, wirklich miteinander zu kommunizieren, so groß sind die Differenzen zwischen den beiden und so schwierig ist es für Helen, etwas über Isaac zu erfahren. Helens Denkmuster sind einfacher als Isaacs, kennt sie doch nur das Leben in der Kleinstadt und nichts weiter von der Welt, und mitunter handelt sie etwas befremdlich. Daher bleibt die angebliche Tiefe ihrer Liebe für den Leser nicht immer nachvollziehbar, man findet kaum etwas, woran man ihre Gefühle festmachen kann. Hinzu kommt der stellenweise etwas nüchterne Sprachstil, der häufig eine gewisse Distanz zwischen dem Leser und der Erzählfigur Helen aufrechterhält. Die Freundschaft zwischen den beiden Isaacs in Uganda wird hingegen vielschichtiger und überzeugender geschildert und auch, wie die beiden sich voneinander zu entfernen beginnen, der eine abgestoßen von den Auswirkungen des Krieges und der andere immer tiefer in das aktive Geschehen hineingezogen.

Inzwischen bin ich wohl mehr Kilometer gelaufen als jeder andere und habe begriffen, dass ich jeden Tag meines restlichen Lebens weiterlaufen könnte und trotzdem nie ein endgültiges Zuhause finden würde. Das ist nichts, worüber man traurig sein müsste. Vielen Menschen geht es schlechter. Sie träumen davon, an einen Ort zu gehören, der sie nicht haben will. (S. 135)

Mit zunehmendem Handlungsverlauf nähern sich die beiden Erzählebenen einander an. Die einzelnen Kapitel sind meist sehr kurz, so dass man beide Erzählstränge tatsächlich fast parallel zueinander liest. Immer wieder werden fast unsichtbare Details eingestreut, die sie zusätzlich auf geschickte Weise miteinander verbinden. Am Ende werden zwar nicht alle Fragen geklärt, doch der Roman bietet einen interessanten Einblick in den Beginn und die Auswirkungen von Machtkämpfen und Kriegen und die Schwierigkeit, mittendrin in alldem man selbst zu bleiben. Neben der Liebesgeschichte ist der Roman vor allem eine Geschichte um Freundschaft, Vertrauen und ständige Neuanfänge und eine Art Analyse einer Identitätssuche, von der fraglich bleibt, ob sie tatsächlich jemals irgendwo enden kann.
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