Der Fall: Erinnerungen eines Vaters in 424 Schritten von Diogo Mainardi (Autor), Wanda Jakob (Übersetzer), 176 Seiten, Paul Zsolnay Verlag (22. Februar 2016), 17,90 €, ISBN-13: 978-3552057357
Der brasilianische Journalist Diogo Mainardi lebt mit seiner Frau am Canale Grande in Venedig, als das Undenkbare geschieht: durch grobe Behandlungsfehler wird sein Sohn Tito mit Zerebralparese geboren. Das Krankenhaus war für eine Menge von Fehlern bekannt, die von dem medizinischen Team gemacht wurden. Aber Mainardi wählte es trotzdem, weil es in der Nähe seiner Wohnung lag und wegen der beeindruckenden Ästhetik der Scuola Grande di San Marco, einem imposanten Renaissance-Gebäude aus dem frühen sechzehnten Jahrhundert, das das Krankenhaus von Venedig beherbergt. Im Nachhinein gibt er sich genau soviel Schuld, wie dem Team im Krankenhaus.
Denn schon als er mit seiner Frau Anna zur Geburt in dieses Krankenhaus ging, stellt er fest: „Bei dieser Fassade nehme ich sogar ein verkrüppeltes Kind.“ (Seite 19) Und das geschah auch, wie wir schon in der ersten Zeile erfahren. Zerbralparese in Folge von Fehlern, von einer "Dottoressa F" begangen, als das Kind während der Geburt für 45 Minuten ohne Sauerstoffversorgung blieb.
424 fragmentarischen Textnotizen und Bildern scheinen mir beispielhaft für die verrückten, unlogischen Wege des Denkens und der Gefühle zu sein, die kontrollieren wollen aber auch die Kontrolle verlieren. So schildert der Autor seine Reise mit seinem Sohn, vom schwierigen Moment der Geburt an bis zu der Erziehung eines Kindes mit Zerebralparese und ihren Auswirkungen. Warum gerade 424 sehr kurze Kapitel, teilweise mit weniger als vier Zeilen? Es sind genau die maximale Anzahl Schritte, die Tito, ohne zu fallen gehen konnte. Das sind Titos tägliche Epiphanien: 424 Schritte, hart, kurz und durch Stürze unterbrochen.
Zwei Erzählungen, die sich gegenseitig überlappen, umkreisen Tito: das Familiendrama und die Geschichte über die Ideen und die Kunst, die ein Ausdruck der philosophischen, religiösen oder ideologischen Wahrheiten sind.
Pragmatismus, Skepsis und die Art und Weise wie er die Fülle von Informationen miteinander verbindet, hat mich sehr beeindruckt. Und er hat Informationen: Er beschreibt genau die Mittel, die Krankenhäuser verwenden, um die Geburt zu beschleunigen, was ja der Auslöser der Zelebralparese war. Er spricht über die Behandlungen, die für seinen Sohn vorgeschlagen wurden. Er spricht auch von Technik, Städtebau, Literatur, Kino, Kunst. Das intelligente Geheimnis dieses Buches besteht in der Fähigkeit von Diogo Mainardi, mit überraschenden Assoziationen scheinbar ferne Dinge miteinander zu verbinden und in Zusammenhang zu bringen. Diogo Mainardi sieht Titos Schatten in den Bildern von Rembrandt, in den Versen von Ezra Pound, in der Geschichte Italiens.
Es ist eine Liebesgeschichte, die mit einem medizinischen Fehler und einer Fehleinschätzung beginnt. Es ist Autobiographie in reinem Zustand. Es gibt keine Charaktere. Es gibt keine Handlung. Es gibt kein Szenario, sondern eine Collage von Referenzen zu Architekten, Gebäuden, Plätzen, Wegen und Situationen, die den Sinn dieses Buches ergeben, gerade weil sie Teil des Lebens des Autors sind. Es gibt leere Räume, Stille, aber auch einem Hauch von Bitterkeit und Enttäuschung.
Eine brillante Arbeit der „experimentellen" Literatur, in der besten Tradition von Autobiographien, wo weniger Gewicht auf das gelegt wird, was passiert ist, als auf das, was der Autor (und damit wir als Leser) sehen können/wollen, was passiert ist. Was wir nach allem realisieren, ist die geistige Schöpfung der Wahrheit.
Ich empfehle Ihnen diese Buch. Jeder sieht, was er will. Lesen Sie „Der Fall“ von Diogo Mainardi, damit Sie sehen können, was Sie wollen.
Hier geht es direkt zum Buch auf der Seite des Hanser Verlages
http://www.hanser-literaturverlage.de/buch/der-fall/978-3-552-05735-7/
Fragen Sie in Ihrer örtlichen Buchhandlung nach diesem Buch. Wenn Sie in meiner Gegend „Landkreis Merzig-Wadern“ leben, dann wenden Sie sich an die Rote Zora: http://www.rotezora.de