Seltsamerweise kommt es bei russischen Intellektuellen gelegentlich zu einer Mischung aus Belesenheit und Wirrnis. Dieses Buch bietet dafür genügend Anschauungsunterricht. Auf seiner Rückseite findet man die fünf Stufen eines gesellschaftlichen Kollapses:
1. finanzieller Zusammenbruch,
2. kommerzieller Zusammenbruch,
3. politischer Zusammenbruch,
4. sozialer Zusammenbruch und
5. kultureller Zusammenbruch.
Soweit, so gut. „Sind in einer globalisierten Welt die Stufen eins und zwei einmal in Gang gesetzt, ist diese Dynamik nicht mehr aufzuhalten“, liest man danach. Nun bringt der Autor in seinem Text Beispiele. Nicht überraschend steht dort oft der Zusammenbruch der Sowjetunion im Mittelpunkt. Der stoppte bei Stufe drei, was den obigen Satz widerlegt.
Im Klappentext fehlt nämlich die grundsätzliche Voraussetzung, unter der Orlov seine Darstellung entwickelt. Es geht nicht um eine allgemeine Lehre vom Kollaps gesellschaftlicher Systeme, sondern um „den bevorstehenden Zusammenbruch der globalen industriellen Zivilisation“ (S. 14) und die Frage, was danach kommt. Orlov ist der Meinung, dass dieser baldige Zusammenbruch inzwischen eindeutig bewiesen ist, weil die Versorgung mit fossilen Brennstoffen, Metallerzen, anderen industriellen und landwirtschaftlichen Inputs, Süsswasser und fruchtbaren Böden endlich ist, wie er auf derselben Seite schreibt.
Er geht dann auf die einzelnen Stufen detailliert ein. Während der finanzielle Kollaps für viele tatsächlich nur noch eine Frage der Zeit ist, orientiert sich das entsprechende Kapitel bei Orlov auch recht eng an den Tatsachen. Es ist auch das Kapitel, was man am besten verstehen kann. Gleichzeitig aber sieht man deshalb hier auch Orlovs Schwächen schon sehr deutlich.
Ob es nun raffinierte Absicht oder unbewusst ist – Orlov führt seine Gedanken selten präzise zu Ende. Diese Halbheit verleitet das Gehirn eines Lesers möglicherweise dazu, diese Gedanken selbst irgendwie zu Ende zu führen und erzeugt auf diese Weise das Gefühl, man hätte den Autor verstanden. So arbeiten übrigens Wahrsager. Sie kennen diesen Effekt sehr genau und arbeiten stets mit Aussagen, die Witzbolde „allgemein-konkret“ nennen.
Die Wirrnis beginnt jedoch schon relativ früh. „Die Wurzel des finanziellen Zusammenbruchs ist der Wucher“, schreibt Orlov. Mit Wucher meint er den Zins, der schließlich bereits in der Bibel und auch im Islam kritisiert wird. Weiter heißt es: „Die Vorstellung, dass Geld mit der Zeit automatisch an Wert gewinnt, widerspricht den Gesetzen der Physik.“ Vielleicht kann er damit manchen Leser beeindrucken. Mir jedoch erschließt sich ein Zusammenhang von Geld und Physik nicht. Mal angenommen Orlov würde auf einer Insel leben, auf der es eine endliche Menge Geld gibt, die nicht vermehrt werden kann. Dann würde der Wert dieses Geldes in der Tat automatisch mit der zunehmenden Warenmenge aus menschlicher Tätigkeit steigen. Man würde für immer weniger Geld dieselbe Warenmenge erhalten.
Dadurch, dass Orlov nicht definiert, was Geld ist, kann er alles behaupten, was ihm gerade so einfällt. Wer Geld ohne Zinsen haben möchte, der verhindert auch einen Verleih von Kapital, denn warum sollte jemand sein Geld riskieren, ohne davon einen Nutzen zu haben? Kurz gesagt: Orlov hat neben den konkreten Problem, nicht wirklich zu verstehen, was Geld ist oder sein sollte, ein grundsätzliches Manko, das sich durch das ganze Buch zieht: Er begreift menschliches Handeln nicht und glaubt (wie übrigens viele Intellektuelle), er könnte Menschen vorschreiben, wie sie zu wirtschaften hätten. Er rafft nicht, dass die Marktwirtschaft nicht die Kopfgeburt irgendeines Schlaumeiers ist, sondern einfach aus menschlichem Handeln entstand. Nur der Sozialismus ist eine intellektuelle Kopfgeburt größenwahnsinniger Intellektueller, die die Komplexität von Systemen nicht verstehen und meinen, sie könnten sie in ihren Köpfen nachbilden. Das ist der Grund, warum Sozialismus nicht funktioniert. Und das ist auch der Grund, warum dieses ganze Buch lediglich eine Zusammenfassung weltfremder und unausgegorener Gedanken ist.
Dabei geht es vor allem immer um die Zukunft nach dem totalen Zusammenbruch. Alles, was Orlov da vorschlägt oder ausführt, ist realitätsfern und kollidiert mit der Frage, warum den die Entwicklung der Menschheit nicht von Anfang an ganz anders, nämlich so wie er sich das vorstellt, abgelaufen ist. Menschen werden sich auch nach einem totalen zivilisatorischen Zusammenbruch, wenn er denn überhaupt eintreten sollte, nicht anders als vorher verhalten. Sie werden sich anpassen, aber niemals ihre grundsätzliche genetische Programmierung verlieren. Oder eben aussterben. Aber an solchen wirren Spekulationen werde ich mich hier nicht beteiligen.
Das Buch liest sich nicht nur wegen seiner recht diffusen Gedankenwelt nicht besonders gut. Man kann kaum eine gedankliche Systematik erkennen. Es fehlen allgemein ordnende Abschnitte. Stattdessen zerschneiden seltsame Einschübe den Text, die irgendwie nicht in das Vorherige passen wollen. Statt den Versuch zu machen, die Dinge systematisch abzuarbeiten, lässt Orlov seine Leser an den Theorien teilhaben, die er gelesen oder verstanden haben will. Wirklich erhellend ist das alles nicht. Man findet übrigens auch keine Literaturangaben, die vielleicht weiterhelfen könnten, jedenfalls keine systematischen.
Alles in allem ist das kein wegweisendes oder gar hilfreiches Buch, wie im Klappentext behauptet wird. Vielmehr ist es unausgereift, schlecht geschrieben und voller fragwürdiger Behauptungen. Und wer denkt, er würde nach dem Lesen dieses Buches wissen, wie ein Zusammenbruch unter Orlovs Voraussetzungen konkret ablaufen würde, sieht sich ebenfalls getäuscht. Darum nämlich geht es nicht, sondern lediglich um die Welt nach dem Kollaps.
Autor von Die Lehre vom Kollaps.
Lebenslauf von Dmitry Orlov
Dmitry Orlov wurde 1960 in eine Dissidentenfamilie in der Sowjetunion geboren, die Ende der 1960er Jahre in die USA auswanderte. Er studierte Ingenieurwissenschafte und Linguistik und arbeitet in zahlreichen Ländern, u.a. am CERN in Genf. Seit einigen Jahren lebt er mit seiner Familie in seiner Heimatstadt St. Petersburg.
Quelle: Verlag / vlb
Alle Bücher von Dmitry Orlov
Die Lehre vom Kollaps
Erschienen am 08.06.2020
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