«Er erzählte mir davon, wie er mit meinem Vater zur Dorfdisco gegangen war, wie dort Neue Deutsche Welle lief und die ganze Scheune bei dem Lied ‹Ich will Spaß› von Markus den Hitlergruß zeigte, als die Zeile lief: ‹Deutschland, Deutschland, hörst du mich?› Dirk sagte, dass dieses Lied ihn tief berührt hätte, weil es alles das ausdrückte, was in diesem Teil von Deutschland so schlecht lief. Man habe nicht Gas geben können, man habe auch keinen Spaß haben können, tatsächlich habe er sich gefragt, ob er von Deutschland gehört werde, ob es da hinter der Mauer Menschen gebe, die sich für sein Schicksal und das seiner Freunde interessieren würden. Er habe es nicht gewusst, aber ihm sei klar gewesen, dass er für den Staat, in dem er lebte, nur als sozialistischer Vorzeigebürger etwas wert war. Doch er wollte nichts mit dem Sozialismus zu tun haben, und so kam es, dass er schon weit vor 89 ein richtiger Nazi gewesen sei. Nur deshalb.»
Früher begann in Jeetzenbeck die Freiheit. Provinz Anfang der Nullerjahre in der Altmark: hier war die erste Station auf der Reise in die weite Welt: nach Amerika. Damals der Traum: Amerika – heute ist die Zugverbindung nach Altenwedel eingestellt und die Einfamilienhäuser am Ortsrand verfallen. Marcel, der nie hier rausgekommen ist, arbeitet als Drehspießverkäufer, will nicht aufhören zu träumen. Von Steffi, seiner großen Liebe, von einer heilen Familie, von einem besseren Leben. Steffi ist gleich nach der Schule abgehauen. Irgendwann war auch sein Vater weg, der Lkw-Fahrer, der ihm die Welt zeigen wollte.
«‹Nur an meinem Geburtstag wird ein anderes Bild gezeigt. Da werden halbtote Bürgerrechtler aus ihren Särgen geholt, mit Anstecknadeln versehen, und dann dürfen die noch ein paar warme Worte in ein Mikrofon sprechen, solange es nicht zu viele sind und sie keine Forderungen stellten, und das auch nur, wenn man sichergehen kann, dass die Querulanten von damals auch dem heutigen System brav nach dem Mund reden. Wolf Biermann singt dann noch ein Lied, beschimpft ein paar Politiker der Linkspartei, die damals noch nichts zu melden hatten oder gar nicht geboren waren, und im nächsten Bericht wird darauf hingewiesen, dass Grünpfeil und Sandmann den Weg in den Westen geschafft haben, und dann ist wieder mal gut. Gute Nacht, Dunkeldeurschland.›»
Der Vater hat die Mutter sitzengelassen, mit Marcel und den Hypotheken für das Haus. Steffis Vater ist Kubaner, der hätte längst abhauen können, aber der liebt seine Frau und ist geblieben, die eben nicht nach Kuba wollte. Sein Traum, ein Restaurant … immerhin er gibt Marcel den Job in der Dönerbude – die ja so nicht heißen darf: Drehspieß. Hier kommen keine 10 Leute am Tag vorbei, für die meisten gib es das Essen gratis. Und Marcel hat seit Kindertagen einen besten Freund, der säuft, der noch nie gearbeitet hat, das auch in Zukunft nicht vor hat. Marcels kleine Schwester ist als Jugendliche mit dem Auto gegen die Friedhofsmauer gerast – tot. Ein trostloses Kaff, dass schon vor der Wende von Nazis durchsifft war – nichts los hier – aber es geht immer weiter. Allerdings in einem Osten ohne Zukunft; zumindest für die, die zurückgeblieben sind.
«Er trug schwere braune Stiefel, hatte eine schwarze Cargohose an, deren Seitentaschen ausgebeult waren, als wäre die Hose eine Reithose aus den dreißiger Jahren. Um seinen großen Bauch spannte sich ein schwarzes, ärmelloses Shirt. Darüber trug er eine Lederweste, auf der nicht wie damals Aufnäher mit Amerikaflaggen oder Symbole der Route 66 waren. Nein. Jetzt waren es eine dreibeinige Triskele, eingefasst in einen roten Kreis, auf dem in Runenschrift »Meine Ehre heißt Treue« stand. Darüber ein großer rechteckiger Aufnäher mit der Aufschrift ‹Born in DDR›, … Ich war froh, dass ich für solche Klamotten nie anfällig gewesen war. Als ich sechs Jahre alt war, hatte es in der Schule langsam angefangen. Erst waren es Lonsdale-Pullover, die vereinzelt auf dem Hof zu sehen waren. Dann trugen die ersten meiner Klassenkameraden Bomberjacken, New-Balance-Turnschuhe und später Springerstiefel. Schließlich schoren sie sich die Haare kurz.»
Die Figuren und ihre Dialoge sind fantastisch authentisch – eigentlich passiert nichts, aber die Dialoge und die kurzen Rückblicke lassen tief blicken. «… das, was uns als Aufschwung verkauft wurde, war schon nicht mehr Stillstand, es war eher Abbau. Abbau Ost.» Bildungsmisere, Arbeitslosigkeit, Umschulung, Nazis, die schon immer da waren, die sich jetzt erst richtig in Szene setzen, der Faschismus macht sich breit – die Hoffnung stirbt zuletzt … nichts wird hier in den Vordergrund gestellt, es passiert einfach. Ein brüchiges Land, brüchige Biografien, Fußball, Bier, stinkende Männer, markige Sprüche, Pausenclowns. Man könnte meinen, das wäre Ossi-Klischee. Aber Domenico Müllensiefen ist aus dieser Gegend, er beobachtet sehr fein, mit viel Humor – und er kann erzählen. Er beschreibt eine ländliche, abgehängte Gesellschaft, Menschen, die immer wieder enttäuscht werden. «Wir waren die erste Generation, die im vereinigten Deutschland aufwuchs, wir waren die erste Generation, über die es nichts mehr zu berichten gab und für die sich niemand interessierte.» Nach der Wende die markigen Sprüche der Väter, alles wird anders, wir fahren nach Amerika, kaufen ein Haus … und gibt es nur schlecht bezahlte Jobs, der Kredit für das Haus belastet. Urlaub? Es reicht es nicht mal für den Balaton. Und wenn legal nichts geht, kommt man auf die Idee, es illegal zu probieren … Der Autor bringt einen wichtigen Satz: «… Altenwedel tatsächlich abgehängt sein, liegt es nicht an den Menschen, die hier leben. Es liegt an den Menschen, die es verwalten.» Und genau das ist das Problem. Wenn es vor Ort nichts mehr gibt, was man zum Leben benötigt, einen Arzt, einen Supermarkt, usw., dann werden die Menschen stinksauer. Marcels Weg wird sich ändern, am Ende: Schnall dich an, es geht los … Von den Nullern bis in die Gegenwartsebene, eine Entwicklung der Provinz. Klasse geschrieben, lässt das Buch nicht los bis zu letzten Seite. Authentisch, gut beobachtet und gefühlvoll, werden komplexe Themen einfach so in den Plot eingebunden, ohne erhobenen Zeigefinger, auch ohne fies draufzuzeigen. Ein spannender, humorvoller Gesellschaftsroman, Comming-of-age, Nachwenderoman, der ein bisschen die Provinzseele im Osten aufblättert. Empfehlung!
Domenico Müllensiefen wurde 1987 in Magdeburg geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er auf einem Bauernhof in der Altmark. Mit 16 lernte er bei der Deutschen Telekom. Danach Anstellung als Techniker in Leipzig. Ab 2011 Studium und Master am Deutschen Literaturinstitut. Nebenbei arbeitete er als Bestatter. Er war Mitherausgeber der Anthologie Tippgemeinschaft, lebt in Leipzig und arbeitet als Bauleiter. «Aus unseren Feuern» ist sein erster Roman.