Cover des Buches Knockemstiff (ISBN: 9783453676787)
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Rezension zu Knockemstiff von Donald Ray Pollock

Erzählungen aus der Hölle, mitten in Ohio.

von Gulan vor 7 Jahren

Kurzmeinung: Stellenweise schwer verdaulich, eine Zumutung, aber oft auch ziemlich brillant. Ein Erzählband von einem Ort der Düsternis und Depression.

Rezension

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Gulanvor 7 Jahren
Ich zog mir die dünne Decke über den Kopf und steckte mir die Finger in den Mund. Eine süßer, salziger Geschmack biss mir in die aufgeplatzte Lippe und zog über meine Zunge. Es war das Blut des Jungen, das noch an meinen Händen klebte.

Während das Bett meiner Eltern im Nebenzimmer laut gegen die Dielen stampfte, leckte ich mir das Blut von den Knöcheln. Die geronnenen Stückchen lösten sich im Mund auf und verwandelten meine Spucke in Sirup. Nachdem ich alles Blut heruntergeschluckt hatte, leckte ich weiter an meinen Händen. Ich riss mit den Zähnen an der Haut. Ich wollte mehr. Ich wollte immer mehr. (S.26-27)

Eine ländliche Gegend im südlichen Ohio. Dünnbesiedelt, wenig Arbeitsplätze. Hier leben die Abgehängten, die Außenseiter. Lebenswege, die nicht von Hoffnung und Zuversicht geprägt werden, sondern von Resignation, Ausweglosigkeit, Verwahrlosung und Gewalt. 18 Kurzgeschichten werden in „Knockemstiff“ zu einem Erzählband zusammengefasst, der von einem Ort der Düsternis und Depression berichtet.

Die Ortschaft Knockemstiff ist kein fiktiver Ort, sondern liegt im Süden Ohios Heute ist es mehr oder weniger eine Geisterstadt, doch Autor Donald Ray Pollock ist in Knockemstiff geboren und aufgewachsen. Ausgangspunkt für „Knockemstiff“ war übrigens die Kurzgeschichte „Bactine“, die Pollock bei der Literaturzeitschrift der Ohio State University einreichte. Dort war man von der Geschichte so begeistert, dass man Pollock überredete, sich für einen Creative-Writing-Kurs an der Uni einzuschreiben. Schließlich veröffentlichte er im Alter von 54 Jahren im Jahr 2008 „Knockemstiff“ als sein Debüt. Mit dieser Anthologie war Pollock direkt erfolgreich, er wurde mit Autoren wie Cormac McCarthy, Flannery O'Connor oder Sherwood Anderson verglichen. Zuletzt erschien im letzten Jahr sein Roman „Die himmlische Tafel“.

"Ich kann nicht behaupten, dass die Provinz Monster gebiert oder dass sogenannte Hinterwäldler gewalttätiger oder bösartiger als Leute wären, die in der Stadt wohnen. Es ist nur so, dass Menschen, die nicht besonders gut ausgebildet sind und in der ländlichen Abgeschiedenheit leben, ein gewisses Gefühl der Ausweglosigkeit verspüren, das sie möglicherweise unkontrolliert aggressiver werden lässt. Das Internet und das Fernsehen haben die Sache heute vielleicht etwas weniger dramatisch gemacht, aber meine zwei Bücher spielen ja auch in der Zeit, als ich ein junger Mann war, in den 1960er- und 1970er-Jahren." So wird Pollock in einem Beitrag des österreichischen Standard zitiert und beschreibt damit selbst ziemlich präzise, worum es in „Knockemstiff“ geht. Auch der Name der Ortschaft, der soviel wie „Schlag ihn tot“ bedeutet, gibt die Richtung vor. Es ist eine deprimierende Erzählung der Trostlosigkeit, des Abgleitens in den Wahnsinn.

Pollock lässt in den 18 Kurzgeschichten verschiedene Personen berichten, mal in Form eines Ich-Erzählers, mal durch einen auktorialen Erzähler. Mehrere Personen tauchen auch an mehreren Stellen auf, aber die Geschichten bauen nicht aufeinander auf. Allerdings fungieren die erste und letzte Geschichte als eine Art Klammer. Es geht um Gewalt in vielen Ausprägungen, zerbrochene Familienstrukturen, Armut, Verwahrlosung, Alkoholsucht, Medikamentenmissbrauch. Der Autor erzählt dies alles in einer lakonischen, fast beiläufigen Art, die aber viel deprimierender wirkt als so manche Sozialprosa. Hier gibt es weit und breit keinen Lichtstreif am Horizont.

„Wie du meinst. Und warum bist du nach Florida gefahren?“

„Ach, keine Ahnung“, antwortete Del. „Ich hatte da dieses Buch gelesen. Wir haben wohl nach einem besseren Leben gesucht, könnte man sagen.“

„Und, habt ihr es gefunden?“

„Nein, war ja nur ein bescheuertes Buch. Hab seitdem keins mehr gelesen.“ (S.137)

Dieses Buch ist garantiert nichts für Schwermütige, denn die Kurzgeschichten bilden so etwas wie die Essenz der Ausweglosigkeit. „Knockemstiff“ ist stellenweise schwer verdaulich, eine Zumutung, aber oft auch ziemlich brillant. Donald Ray Pollock zeichnet trotz mancher Überspitzung ein realistisch wirkendes Bild des White Trash.

Kummer, Spott und Nachtschichten hatten sie in einen Kaffee verschüttenden Zombie verwandelt. Man hätte ihr ein Kreuz an die Stirn nageln können, ohne dass die Frau auch nur mit der Wimper gezuckt hätte. Ohne auf eine Antwort zu warten, machte sie kehrt und schlurfte zu der glänzenden Theke zurück. Ihre weiße Kellnerinnenhose hing am Hintern durch und war voller Kaffeeflecken und Doughnutfett. Wäre ich ein Mann, der sich um ein öffentliches Amt bemüht, ich würde auf Personen wie sie setzen. (S.147)

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