Rezension zu "Das fünfte Kind" von Doris Lessing
Doris Lessing, Das fünfte Kind, aus dem Englischen von Eva Schönfeld. Hoffmann und Campe, Hamburg 1988, (Deutsche Erstausgabe), engl. The Fifth Child (1988).
Ich mag Bücher, die mysteriös sind, die Genregrenzen überschreiten und die völlig unterschiedliche Interpretationen zulassen. Der Roman „Das fünfte Kind“ der Literaturnobelpreisträgerin von 2007 („Das goldene Notizbuch“) gehört für mich ganz klar zu den immer wieder lesenswerten Klassikern der Weltliteratur
Worum geht es in dem Roman? In den wilden 1960ern, in denen für freie Liebe und das Loslösen aus der bourgeoisen Enge geworben wird, treffen sich zwei Menschen auf einer Party, die eine völlig andere Vorstellung vom Leben und dem perfekten Glück haben. Harriet und David leben keusch, sehnen sich nach einem unzeitgemäßen Idyll, einer monogamen Beziehung, vielen Kindern und einem schönen Haus. Diesen Traum können sie sich auch mit der finanziellen Hilfe und tatkräftigen Unterstützung ihrer Eltern erfüllen. David geht arbeiten, Harriet versorgt das Haus und die vier Kinder, die in kurzen Abständen geboren werden und bewirtet zahlreiche Gäste, die das Paar in dem dreistöckigen viktorianischen Haus besuchen. Obwohl sie eine kleine Pause in der Familienplanung einlegen möchten, wird Harriet wieder schwanger – doch diesmal ist alles anders. Durch die schwierige Schwangerschaft wird Harriets Traum vom Mutterglück schon auf eine harte Probe gestellt, aber die eigentlichen Probleme beginnen erst, als der „kleine Neanderthaler“, wie Harriet den Sohn Ben nennt, auf der Welt ist. Denn er ist anders. Größer, gieriger, kräftiger, brutaler, düster, hässlich, unverständig und unmoralisch. Die anderen Kinder beginnen sich vor ihm zu fürchten und die Verwandten raten dazu, ihn in eine Institution zu geben. Und auch Harriet hat Angst vor dem, was sie da in die Welt gesetzt hat.
Natürlich passiert viel mehr. Auf knapp 150 Seiten entwirft Doris Lessing ein düsteres, unangenehmes und dichtes Szenario. Seltsame Ereignisse, das unheimliche Äußere des Kindes, die merkwürdigen Reaktionen der Menschen auf Ben – dies alles sind Elemente, die zusammen eine richtig gute Monströses-Kind-Horrorstory bilden- wenn man die Erzählung so lesen möchte.
Tatsächlich sind aber natürlich viele Themen enthalten, über die man nachdenken kann. Stimmt wirklich etwas mit dem Kind nicht oder mit der Mutter? Wurde es so geboren oder wurde es zu dem gemacht, was es ist? Wie egoistisch darf man seine Ideale verfolgen? An keiner Stelle macht Lessing es und so einfach, dass sie uns mit der Nase auf die Moral von der Geschicht‘ stößt.
Für wen ist dieser Roman etwas? Für alle, die gerne gute Horrorgeschichten lesen, in denen sich das Unheimliche sanft in das Leben der Protagonisten drängt, aber unwiderruflich einnistet, die aber zugleich neben der vordergründigen und spannenden Story jede Menge Stoff zum Nachdenken bieten. Für alle diejenigen, die auch Erzählungen wie Henry James „The Turn of the Screw“ mögen.
Für wen ist dieser Roman nichts? Für alle diejenigen, die lieber handfeste und actionreiche Horrorstories lesen. Körperteile fliegen hier nicht. Es ist die Präsenz, die an sich schon unheimlich ist.