Rezension zu "Ich mach dich tot" von E. Nikes
Wenn man dieses Buch gelesen hat, möchte man am liebsten alle Eltern an den Schultern packen und schütteln: Kümmert euch! Achtet auf eure Kinder! Oder wollt ihr, dass ihnen dasselbe passiert?
Denn was der Ich-Erzählerin Eva hier widerfährt, das wünscht man niemandem. Weil der depressive Vater Selbstmord beging, wurde die Mutter drogensüchtig, und nun muss sie in eine Entzugsklinik. Die Tochter wird solange in einer betreuten Jugend-WG untergebracht, wo sie mit Aggressionen, Gewalttätigkeit, hygienischen Missständen und psychischer Labilität konfrontiert wird. Sie lernt Mobbing und Lügen, Kriminalität und Prostitution aus nächster Nähe kennen. Schnell erkennt sie, dass die erwachsenen Bezugspersonen – die Betreuer und eine Psychologin – mit der Betreuung der renitenten Jugendlichen völlig überfordert sind. Es gibt keine Hilfe von außen. Wenn sie überleben will, muss sie sich selbst helfen.
Aufgrund von Titel und Klappentext hatte ich diesen Roman für recht reißerisch gehalten, doch das Gegenteil ist der Fall. Mit ihrer sehr kindlichen, fast naiven Erzählstimme – im Hörbuch absolut genial umgesetzt von Anna Thalbach – berichtet Eva ohne Wertung und Beurteilung von den alltäglichen Streitereien in der WG, die sich bis zu blutigen Schlägereien hochschaukeln, und von der Gleichgültigkeit der Jugendlichen allen Vorschriften gegenüber. Sie selbst wirkt dazwischen wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Besonders berührend fand ich den Moment, als sie ihre erste Periode bekommt – wie sie ganz unbemerkt zur Frau wird, ohne diese einschneidende Erfahrung mit jemandem teilen zu können.
Das Buch wirkt durchweg authentisch und überzeugend, man bekommt nicht den Eindruck, dass hier um der Sensation willen übertrieben dramatische Szenen geschildert werden. Auch die Betreuer sind weder Gutmenschen noch Ungeheuer: Sie tun ihre Arbeit und stoßen an ihre Grenzen wie jeder andere auch.
Nur eines hat mich ein bisschen irritiert: dass Eva immer wieder von „Kindern“ spricht, gelegentlich sogar von „Spielzeug“, mit dem sie sich beschäftigen. Immerhin handelt es sich hier um Jugendliche, die – wie Dagmar – ihr Geld mit Prostitution verdienen oder die – wie Patrick – wegen bewaffneten Überfalls zu einer Bewährungsstrafe verurteilt sind. Das verschärft zwar den Widerspruch zwischen Evas bisheriger Ahnungslosigkeit und der brutalen Realität, der sie plötzlich ausgeliefert ist, aber auf mich wirkte das einen Tick zu naiv.
Gleichwohl, dieser Roman verfehlt seine Wirkung nicht, und auch das sehr ernüchternde Ende – das den Leser nach anfänglicher Hoffnung auf ein Happy-End gnadenlos in die harte Wirklichkeit zurückstößt – hat mir (in literarischer Hinsicht) äußerst gut gefallen.