„Stumme Schwäne“ ist ein Roman über die Wahrnehmung der persönlichen und gesellschaftlichen Realität zweier Kinder und die phantasievolle Übersetzung in ihr eigenes Weltbild. Durch diese Weichzeichnung schimmert der Alltag in der Türkei im Jahre 1980 immer wieder drastisch hervor. Im September putschte sich das Militär zum dritten Mal an die Macht mit der „Operation zum Schutz und zur Sicherung der Republik“. Man befürchtete eine Islamische Revolution wie im Iran oder einen Bürgerkrieg wie im Libanon.
Der Roman stellt die beiden Protagonisten Ayse und Ali in den Mittelpunkt und uns ihre Erlebnisse und Gedanken dialogartig, plastisch und hautnah miterleben lässt. Ayse aus der begüterten Familie Bakar, deren Mutter vor Jahren aktiv an den Studen-tenrevolten teilgenommen hatte, im Gefängnis war und gefoltert wurde. Und Ali, der Sohn der Familie Akgün, die in einem Gecekondu lebt.
Ein oberer Militär begehrt einen der Schwäne aus dem Park in Ankara für sein eige-nes Anwesen: Der Schwan kann jedoch entkommen. Und wie bei einer Sippenhaft sollen deshalb die anderen Schwäne des Schwanenparks für diesen Ungehorsam büßen und flügellahm operiert werden, als ob sie die Botschaft verstehen könnten: es gibt kein Entfliegen. Der Schwan mit der Aura von Reinheit und Unschuld und Königswürde wird hier das Symbol für Unterdrückung und Freiheit.
Die Geschichte der Schwäne ist ein Passepartout für die unterschwellige Bürgerkriegs-Stimmung im Land. Die Türkei befindet sich im Vorstadium zum Militärputsch von 1980: wir lesen von dem Verhalten und dem Alltag der Menschen auf, der Intelli-genzia, der „einfachen Leute“, der Angepassten und der Kleinbürger wie die Nach-barin Jale Hanim, die immer die neuesten Schlager singt und durch die Boulevard-presse in der Welt des Glanzes und und des Glimmers lebt. Wie auch heute, und das natürlich nicht nur in der Türkei, werden die Geschichten über Sternchen und Stars des Musik- und Filmgeschäfts, hier Zeki Müren und Bülent Ersoy, zwei besonders ex-zentrische Figuren des türkischen Musikhimmels, in Szene gesetzt, um die Masse abzulenken. Das alte Prinzip von Brot und Spiele.
Die beiden Kinder sind schon durch ihre Herkunft grundverschieden. Ali ist ein ernsthafter, nachdenklicher Junge, der als zurückgeblieben gilt, seit er einmal über den Rand eines Brunnens in die Tiefe fiel. Aber er kann, wie Ayse voller Stolz betont, die Kleinbuchstaben lesen, ein Konversationslexikon ist sein ständiger Begleiter. Ali träumt, dass sie alle nach der erhofften Revolution Strom haben, dass seine Mama Rosen züchten kann, dass es nicht jeden Tag nur Mehlsuppe gibt, dass jeder ein Lexikon hat und alle Revolutionäre, die umgebracht wurden, im Schwanengewand wiederkommen. „Wenn jemand stirbt, dann verschwindet er eigentlich nicht. Nichts verschwindet. Alles geht weiter, wenn auch in veränderter Form. Deshalb kann ein Mensch auch eines Tages als Schwan wieder auf die Welt kommen.“ Das sei dialektischer Materialismus, sagt sein Freund Hüseyin, einer der Studenten, die beim Wiederaufbau seines durch Fanatiker abgefacktelten Elternhauses helfen. Aufgewachsen ist Ali in einem Gecekondu der Aleviten, der sog. Kizilbash, der Rotköpfe, eine pejorative Bezeichnung für diese Religionsgemeinschaft, die immer wieder isoliert, benachteiligt und verfolgt wird. Seine Eltern Aliye und Hasan unterstützen den Widerstand.
Ayse stammt aus einer gutbürgerlichen wohlhabenden Familie, die jedoch der linken Szene angehört. Ayse wächst sehr behütet auf und ist bisher kaum mit der realen Welt konfrontiert worden, sie ist noch kindlich-naiv. Sie klassifiziert z.B. die Gerüche und Geräusche in der Wohnung: die Kopftücher und Gästepantoffel, das Nachthemd ihrer Oma riecht nach Butterkeksen, der Tisch brummt vor sich hin, die Sessel haben Bauchweh. Und das Lachen: Das von Papa ist, als ob er Wasser trinkt, das von Mama, als kommen Vögel aus ihrer Kehle, das von Oma ist wie ein Tablett Börek und das vom Nachbarn Sanim klingt wie galoppierende Pferde. Sie kennt das Eigenleben der alltäglichen kleinen Dinge ihrer kleinen Welt: der Haarklammer, der Stecknadel, des Hemdknopfs, der platt gedrückten Glühbirnenschachtel.
Ayse ist entsprechend ihrer Herkunft weißhäutig, anders als Ali, der entsprechend seiner Herkunft sehr braunhäutig ist. Diese Weiß- oder Braunhäutigkeit ist auch in anderen Ländern ein Zeichen für die soziale Abstammung: reich vs. arm.
Doch sind diese Unterschiede: gutbürgerlich und Gecekondu, Kleinbuch-staben und Konversationslexikon, Hautfarbe nichts Trennendes, eher etwas sie Verbindendes. Die Kinder sind enge Freunde und teilen ihre Gedanken, Träume und Ängste.
Ayse und Ali haben ein eigenwilliges Gerechtigkeitsbewusstsein, das sich in zwei geplanten Aktionen ausdrückt. Sie schwören einen Eid: Wir leisten Widerstand gegen den Faschismus bis der letzte Schwan gerettet ist und die Schmetterlinge im Parlament sind. Ayse hatte in dessen Garten „tausendmillion“ Stück wunderschöner Schmetterlinge in einer Flugwolke gesehen, so als ob diese gebündelt das Parlament erobern wollten. Daraus entstand die Idee, die Schmetterlinge hinein zu schmuggeln. Was für ein schönes farbiges Bild der Leichtigkeit und Lebensfreude: Schmetterlinge im Parlament.
Ali bringt Ayse ein paar Seidenraupen mit und sie stehlen aus der Polizeiwache gegenüber ihres Hauses Maulbeerbaumblätter als Futter. Ayse gelingt es, die Seidenraupen in das Parlamentsarchiv , in dem ihre Mutter arbeitet, zu schmuggeln: die Raupen gehorchen dem Gesetz der Entelechie: sie werden zu Schmetterlingen. Und sie fliegen und ihr Schmetterlingsflügelstaub färbt die Akten gelb und orange. Der Wunsch ist wahr geworden.
Die Rettung der Schwäne wird ihr zweites Projekt. Ganz im Sinne eines Befreiungskrieges: Sie wollen sie vor der Verstümmelung retten. Auf dass sie frei sind und fliegen können, wohin sie wollen. Mit Chloroform, einer Schubkarre und einem Sack ausgerüstet gelingt es ihnen, einen Schwan zu entführen und in Ayses Haus in Sicherheit zu bringen. Deren Eltern waren gerade dabei, ihre Wohnung kleinbürgerlich herzurichten: alle Bücher sind verschwunden, Spitzendeckchen überall. Damit bei einer Durchsuchung nichts in falsche Hände gerät.
Ali lebt in dieser Zeit bei den Bakars, da seine Mutter nach einem Überfall durch die Faschisten mit gebrochenen Armen im Spital liegt. Die Familie bricht im Auto auf, um Ayses kranken Großvater in der Provinz zu besuchen. Dort landen sibirische Schwä-ne immer vor ihrem Weiterflug gen Süden. Sie entlassen ihren gemeinsamer Schwan in die Freiheit. Damit er mit seinen Artgenossen vereint ist und sein Schwanen-schicksal erfüllen kann.
Inzwischen hat das Militär die endgültige Macht übernommen. Um das Vaterland zu schützen. Parlament und Regierung wurden aufgelöst, landesweit der Notstand ausgerufen.
Fluchschatten liegen über dem Land. Begann es, als die Osmanen ihre Zelte gegen Paläste eintauschten, als sie das Byzantinische Reich eroberten, oder als der doppelte osmanische Imperativ „Ich befehle Dir, jemand anderem etwas zu befehlen“ eingeführt wurde, oder als die Knabenlese auf dem Balkan ihre traurigen Früchte trug, oder als die bis heute geleugneten Massaker an den Armeniern den anatolischen Boden mit Blut und Knochen fütterte, oder als die türkische Republik ausgerufen wurde?
Der Autor Müller-Hohagen zeigt uns in seinem Buch „Die Geschichte in uns“ deutlich, wie sehr Verdrängungsmechanismen von Tätern und Opfern in den Familien weiterleben und tief im Inneren der Menschen ein Eigen-leben entwickeln und ihre Gedanken und Taten steuern.
Nazim Hikmet schrieb: Wir müssen an die Menschen glauben. Ja, aber der Glaube an Gott ist weniger enttäuschend.
Und wiederholt sich Geschichte? Das Buch schließt mit einer Zeitungsnotiz zu den Gezi-Protesten im Jahre 2013: Junge Leute retten die von Tränengas geschädigten Schwäne des Parks.