Cover des Buches Berlin ... Endstation (ISBN: 9783423137836)
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Rezension zu Berlin ... Endstation von Edgar Hilsenrath

Edgar Hilsenrath – "Berlin ... Endstation"

von gaucho vor 6 Jahren

Rezension

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gauchovor 6 Jahren

Wer hier einen waschechten Berlin-Roman erwartet, wird einerseits enttäuscht, andererseits mit der ganzen Welt überrascht.

Es ist 1975. Der erfolglose jüdische Schriftsteller Joseph Leschinsky hat nach mehr als drei Jahrzehnten im Exil "die Schnauze voll" von den USA. Als Überlebender des Holocaust will er ins Land seiner Verfolger zurückkehren. Leschinsky, den alle nur Lesche nennen, hat Sehnsucht nach seiner Geliebten, der deutschen Sprache: "Ich muss sie hören, immer und überall."

Desillusioniert vom großen amerikanischen Traum, den Lesche ohnehin nie geträumt hat, glaubt er nur noch an sich selbst: "Als Schriftsteller mache ich überhaupt keine Kompromisse, und ich habe auch in keinem meiner Bücher irgendwelche Zugeständnisse an Dritte gemacht, weder aus finanziellen, ideologischen noch politischen Gründen." Er landet in West-Berlin und blüht schon schnell auf. Seine Romane, die von amerikanischen Verlagen abgelehnt wurden, finden hier ihr Publikum. In Literaturkneipen wie dem "Zwiebelfisch" lernt Lesche Künstler, Verleger, Literaten und Frauen kennen.

Von allen Seiten unterstützt, wird er jedoch beständig von seiner traumatischen Vergangenheit eingeholt. Da ist die Flucht vor den Nazis nach Polen, die Vergewaltigung des Jungen von einer alten Bäuerin und das ewige Verstecken vor dem Feind.

In Berlin findet Lesche aber auch endlich den so ersehnten Kontakt zu Frauen, der ihm in den USA verweigert wurde wegen seiner Mittellosigkeit. Lesche treibt es bunt, schwängert direkt eine Minderjährige und vergnügt sich gleichzeitig mit deren Mutter. Und irgendwann findet er wie beiläufig etwas Wunderbares: "Ein Leben lang waren Frauen nur Sexobjekte für ihn. Anahid war die erste, für die er etwas empfand." Die junge Armenierin lernt er auf seiner Recherchereise für sein Armenien-Epos kennen und lieben.

Der Leser folgt Lesche um die ganze Welt, unter anderem nach London, San Francisco und Halle. Er recherchiert, er schreibt, er trifft die unterschiedlichsten Leute und sein geplanter Rachemord an einem ehemaligen Nazi-Mitschüler löst sich in Vergebung auf. Doch nun sind ihm junge Neonazis auf den Versen. Sie schicken dem Literaten, der mit dem Thema Holocaust satirisch in seinen Texten umgeht, Drohbriefe und malen Hakenkreuze an seine Tür. Er will sich nicht mehr verstecken und wird am Ende doch noch umgebracht. Anahid stellt trauernd fest: "Schließlich haben die Enkel der alten Nazis vollbracht, was den alten Nazis nie gelungen ist."

"Berlin ... Endstation" ist ein flott geschriebener Roman, der mit Witz und kurzen Sätzen ein trauriges Schicksal und Glück suchendes Leben umreißt, das stellvertretend für viele steht. Eine zotige Liebeserklärung an die deutsche Sprache. Mal anstößig, oft charmant und sehr bilderreich geschildert.

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