Cover des Buches Der wandernde Spielzeugladen (ISBN: 9783832183103)
Stefan83s avatar
Rezension zu Der wandernde Spielzeugladen von Edmund Crispin

Wilde Jagd durch Oxford

von Stefan83 vor 13 Jahren

Rezension

Stefan83s avatar
Stefan83vor 13 Jahren
Wenn man selbst genug von der dunklen Jahreszeit hat und die weiße Pracht des Schnees so langsam zum eisigen Ärgernis wird, ist es vielleicht nur wenig klug, sich ausgerechnet einen klassischen Krimi des Golden Age als Lektüre auszuwählen, denn. diese sind bekanntlich von gemächlichem Tempo und nicht selten durchsetzt von einer finsteren bis gruseligen Kulisse. Wie gut, dass es Ausnahmen von der Regel gibt. Edmund Crispin, Pseudonym des britischen Autors Bruce Montgomery, ist eine davon. Wer zuvor stets behauptet hat, den Vertretern der Rätsel-Krimi-Fraktion mangele es an Geschwindigkeit, sieht sich hier äußerst eindringlich und geistreich eines Besseren belehrt. Gervase Fens drittes Abenteuer hat mich nicht nur endgültig zum Fan dieser Serie, sondern streckenweise auch an den Rand eines Lachkrampfs gebracht. Die Geschichte sei schnell angerissen: England im sonnigen Herbst des Jahres 1938. Der Dichter und Schriftsteller Richard Cardogan hat genug von der Schreiberei und sehnt sich nach Abwechslung und Abenteuer. Nachdem er seinem zerknirschten Verleger fünfzig Pfund Reisegeld aus der Tasche geleiert hat, reist er noch am selben Abend los – sein Ziel: Oxford. Er kann zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass mit seiner Ankunft, die sonst so idyllische englische Universitätsstadt zum Schauplatz hektischster Aktivitäten werden wird. Angelockt von der Neugier und angetrieben von schier unerschöpflichem Tatendrang betritt er die offene Eingangstür eines Spielzeugsladens, um dort im oberen Stockwerk die erdrosselte Leiche einer älteren Frau zu entdecken. Bevor ihm die Zeit bleibt irgendetwas zu unternehmen, schickt ihn ein Hieb in die schmerzvolle Dunkelheit. Erst Stunden später, am nächsten Morgen, erwacht Cardogan, und begibt sich, nachdem er seinen Magen ausgiebig im Hinterhof des Hauses entleert hat, zur Polizei, um diese zum Tatort zu führen. Zu seiner Überraschung findet sich unter dieser Adresse jedoch kein Spielzeug-, sondern ein Lebensmitteladen. Und von der Leiche fehlt natürlich ebenfalls jede Spur. Die Polizei, welche Cardogan inzwischen für einen verrückten Spinner hält, speist ihn mit wohlmeinenden Platitüden ab und legt den Fall zu den Akten. In seiner Verzweiflung sucht dieser nun seinen alten Freund, den exzentrischen Englisch-Dozenten und Amateur-Detektiv, Gervase Fen auf. Dieser ist von der Aussicht auf ein wenig Abwechslung sehr begeistert und stürzt sich in der ihm eigenen Art und Weise auf den Fall. Und Cardogan, der jetzt an Fens Seite durch Oxford eilt, beginnt seinen Wunsch nach Abenteuer mit jeder Stunde mehr zu bereuen … Was nun folgt ist eine aberwitzige Geschichte mit wortwörtlich durchgetretenem Gaspedal, welche mit allen Regeln des Golden Age Krimis aufs abenteuerlichste bricht. Wo sonst andere Vertreter des Genres lange am Tatort verweilen, um Motive, Indizien und Ideen in Gedanken zu umreißen, stürzt sich hier der Detektiv augenscheinlich ohne Sinn und Verstand in die Arbeit. Gervase Fen läuft in „Der wandernde Spielzeugladen“ absolut zur Hochform auf. Der selbstherrliche Chaot, dem natürlich klar ist, dass er nur eine Figur in einem Kriminalroman ist, wirft jede Konvention über Bord und schert sich dementsprechend auch wenig um irgendwelche Gesetze. Frei nach dem Motto: Wenn die Polizei zu behäbig ist, muss man die Sache selbst in die Hand nehmen und dabei auf jedwedes Hilfsmittel zurückgreifen. In diesem Fall ist das die angetrunkene Rudermannschaft des Colleges, welche, angelockt von der Belohnung durch noch mehr Alkohol, in den nächsten vierundzwanzig Stunden von Fen als Verbrechensbekämpfungseinheit rekrutiert wird. Die Folge ist eine Reihe grotesker Verfolgungsjagden, die beim Leser garantiert keine Auge trocken lassen. Crispin schreibt amüsant, köstlich ironisch, und spickt seinen intelligenten Krimi mit einer Reihe literarischer Anspielungen, wie es sich halt auch für eine in Oxford spielende Handlung gehört. Wen störts da, dass die Figuren schon dermaßen überzeichnet sind, dass sie wie Karikaturen wirken? Vom D.H. Lawrence zitierenden Lastwagenfahrer über den rattengesichtigen Tatverdächtigen bis hin zur verschrobenen alte Dame. Crispin reizt das Spektrum der typischen Krimifiguren bis an die Grenzen aus und verwandelt Oxford in einen turbulenten Hexenkessel. Umso erstaunlicher ist es dann, dass aus diesem komödiantischen Kammerspiel keine komplett platte Komödie wird, denn der Autor, welcher „künstlich-kunstvolle“ Krimis schreiben wollte, schafft es trotz allem immer wieder die Spannung hoch und die Frage nach der Identität des Mörders offen zu halten. Was kann er schon dafür, dass bei all dieser Rasanz und Hektik dem Leser die Antwort darauf bald herzlich egal ist. Er gibt sie trotzdem und lässt das Buch in einem Showdown schließen, der für Vertreter des Golden Age eher unüblich ist und das ohnehin schon überstrapazierte Zwerchfell des Lesers noch ein letztes Mal auf die Probe stellt. Insgesamt ist „Der wandernde Spielzeugladen“ der bis hierhin beste Band der Gervase-Fen-Reihe, dem eine höhere Bewertung nur aus folgenden Gründen versagt bleibt: Bei all der Slapstick und augenzwinkernden Ironie (Crispin macht sich mehr als einmal über das Genre lustig), wirkt der Humor doch an mancher Stelle etwas zu gewollt und übertrieben. Und auch Fen bleibt eine Figur, die man als handelnden Ermittler akzeptieren, allerdings ganz sicher nicht mögen kann. Ein kurzweiliger, erfrischender Thriller-Whodunit-Mischling aus der Nachkriegszeit, der zur Erheiterung besser taugt, als zum Miträtseln.
Angehängte Bücher und Autor*innen einblenden (2)

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks