Das Buch ist seltsam. Ich habe mich schwer getan einen Zugang zu finden. Es ist in gewisser Hinsicht auch sperrig. Es gibt zu viele Familienmitglieder, zu viele (wiederkehrende Namen). Zu viele Themen, die miteinander verwoben werden. Und doch hat es mich in seinen Bann gezogen, mich beeindruckt und mich gedanklich länger beschäftigt; in gewisser Hinsicht sogar eine weitere Welt geöffnet.
"Der Hase mit den Bernsteinaugen", im Englischen mit dem treffenderen Untertitel "a hidden inheritance" (ein verborgenes Erbe) versehen, ist die Geschichte von 264 Netsuke, japanischen Miniaturfiguren aus Elfenbein oder Holz, die sich als roter Faden durch das Buch zieht. Aber es ist auch die Geschichte einer Familie - der Ephrussi.
Die Ephrussi stammen aus Odessa, haben griechische Wurzeln. Als vermögende jüdische Getreidehändler, dann Bankiers, gehen die Brüder Leon und Ignaz Mitte des 19. Jahrhunderts mit ihren Familien nach Wien bzw. Paris. Es sind Jahrzehnte, in denen die Familie in ganz Europa heimisch ist - bis zwei Weltkriege ihre eigene Welt zum Einsturz bringen und sich die überlebenden Nachfahren in die Welt zerstreuen.
Edmund de Waal, der die Netsuke Mitte der 1990er vom Bruder seiner Großmutter erbt, Künstler - Töpfer aus England, hat eine besondere Beziehung zu diesen Figuren und versucht ihrer Geschichte, und damit auch der Geschichte seiner Familie, auf den Grund zu gehen. Sie beginnt mit Charles in Paris, einem Kunstsammler und Kunsthistoriker, der die Netsuke mit der Mode des Japonismus kauft. Er verschenkt sie dann zur Hochzeit an seinen Cousin Viktor in Wien, wo alle 264 Netsuke im 2. Weltkrieg durch Anna, eine besondere Bedienstete der Familie versteckt und gerettet werden. Nach dem Krieg nimmt Elisabeth, Tochter Viktors und Großmutter des Autors sie mit nach England, bevor ihr Bruder die Figuren mit zurück nach Japan nimmt. Ohne den Stammbaum zu Beginn des Buches wäre ich aufgeschmissen gewesen.
Das Buch versammelt so viele Namen. Im ersten Teil in Paris ist Charles bekannt mit so vielen Künstlern. Er ist ein Mäzen der aufkommenden Impressionisten, auf einem Bild Renoirs verewigt. Er ist eines der Vorbilder für Prousts "Swann". Jede Seite enthält weitere Namen von Künstlern, Schriftstellern, geschichtsträchtigen Persönlichkeiten, die zum Nachforschen einladen. Es ist schwierig beim Buch selbst zu bleiben und nicht abzuschweifen. Dazwischen eingebettet sind immer wieder persönliche Geschichten, Schicksale, Skandale, auch Vermutungen, die der Autor in zweijähriger Recherche durch verschiedenste Aufzeichnungen zusammengetragen hat. So viel Geschichte, auch Fachliches zur Kunst, den Netsuke. Und dem Thema von Juden in Europa.
Genauso geht es im zweiten Teil in Wien weiter, wenn auch mit mehr Geschichte. Es ist spannend die Personen zu verfolgen. Seine Großmutter Elisabeth war mit Rilke im Briefwechsel, hat als eine der ersten Frauen einen Abschluss als Juristin der Wiener Universität - sie studiert zwischen den Weltkriegen. Bereits der erste spaltet die Familien in Europa. Die Familie verliert ein Vermögen. Der dritte Teil des Buches zeigt was im zweiten Weltkrieg passiert. Hier ist noch mehr Geschichte enthalten, aber auch hier viele persönliche Schicksale. Diese Tragik ist kaum auszuhalten und ich lese nur an der Oberfläche davon. Elisabeth ist es zu verdanken, dass ihre Eltern Österreich verlassen können. Sie bemüht sich nach dem Krieg, die verlorenen Familienschätze wiederzubekommen - mit geringem Erfolg.
Der vierte Teil handelt dann von ihrem Bruder Ignaz, der zunächst vor dem Familienerbe (der Laufbahn des Bankiers) in die USA geflohen war, im zweiten Weltkrieg als amerikanischer Soldat wiederkommt und letztlich als Bankier in das besetzte Tokio der Nachkriegszeit geht, wo er, nach Wien, ein neues Zuhause findet. Im Schlusswort führt der Autor die Geschichte von Tokio über Odessa zurück nach London zu sich selbst, wo die Geschichte der Netsuke weiter geht, von Neuem beginnt.
Fazit: Dieses Buch ist so vieles. Die Netsuke als roter Faden verbinden Weltgeschichte mit persönlicher Geschichte, Handwerksthemen mit Kunst und Literatur. Das Buch ist anspruchsvoll, anstrengend und doch so leicht lesbar. Die Verbindungen sind so viel mehr als ihre Einzelteile. Es ist etwas ganz Besonderes, was jeder für sich selbst entdecken muss.