Rezension zu "Die soziale Eroberung der Erde" von Edward O. Wilson
Es ist ein neuer Ansatz, den der Biologe E.O. Wilson in diesem Buch als Ergebnis seiner jahrelangen Forschungen vorlegt. Quasi an die Seite der bisherigen „Standard-Annahme“ eines „survival of the fittest“, sprich, einer Evolution des Gen-Pools im Individuum, das über lange Zeiträume sich seiner Umwelt bestmöglich anpasst und allein die eigene „Familie“ als Kerngruppe des Lebens vesteht, setzt Wilson nun seine „Theorie der Gruppenselektion“.
Und bei allem Neuland, dass er durchaus ja betritt, ist es eine in sich überzeugende und zudem ebenso überzeugend dargelegte Sichtweise auf die Entwicklung des Menschen in seinen vielfältigen Strömungen von Technik, Kultur, Gesellschaft und Aneignung des Lebensraumes Erde. Als Individuum hätte der Mensch wohl tatsächlich keine Chance gehabt, die vielfachen Gefahren zu bestehen, allein schon erfolgreich genügend Nahrung in widrigen Zeiten zu finden. Die überschaubare, mittlere bis kleinere Gruppe mit ihren schon früh nachweisbaren Arbeitsteilungen mag und kann es so durchaus gewesen sein, die als „Keimzelle des Erfolges“ auch im evolutionären Sinne im Raum steht.
Und das ganze, wie Wilson es ausdrückt, vollzieht sich in einer fragilen Balance, von Anfang an bis heute. In der Reibung und Spannung zwischen der Egozentrik des Individuum für sich betrachtet und der ebenso im Menschen angelegten „Fähigkeit zur Gemeinschaft“.
Das gleiche Wesen, dass „über Leichen“ gehen kann, wenn es seinen eigener Vorteil allein im Blick hat und unabdingbar verfolgt, kann sich ebenso „aufopfern für die Gemeinschaft“ (nicht nur für den eigenen Nachwuchs, auch für sogenannten „höhere Ziele“, welche die Gruppe als solche voranbringen könnten). In diesem Spannungsverhältnis sieht Wilson dann alle menschlichen Äußerungen über Sinnfragen, die Kultur, Religion, Musik, Dichtung, Philosophie und vieles mehr angesiedelt. Sei es als Ventil für innere Spannungen aufgrund der Reibung zwischen Egoismus und Gemeinschaftsgefühl, sei es als Selbstvergewisserung oder ein mögliche Wegbeschreibung zwischen diesen evolutionären Polen im Menschen.
Diese soziale Ebene beschränkt sich nun, das ist das Neue, keinesfalls nur auf das „eigene Blut“, die eigenen, engsten familiären Strukturen, sondern erstreckt sich grundlegend, von Beginn an (und sehr erfolgreich) auf die soziale Gruppe, die immer mehr war und ist als der enge Verwandtschaftskreis.
Ist das der „Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Natur“, wie ihn Wilson als Leitfrage vorgibt? Wilson meint ja.
„Besonders die große bildende Kunst ist Ausdruck vom Unterwegssein eines Menschen, Anspielungen auf Gefühlsregungen, die sich nicht in Worte fassen lassen“.
Ausdruck vor allem der inneren Bipolarität des Menschen.
Eine Frage, eine Spannung, eine Reibung, eine Suche nach dem, warum der Mensch ist und wohin er geht, die, so Wilsons tiefe Überzeugung, von „keiner Religion je gelöst werden wird, sondern eben nur in der Biologie eine tragfähige Antwort finden kann. Und Wilsons Antwort ist fundiert, durchaus mit Nachdruck argumentiert, flüssig und verständlich zu lesen und, im Kern, durchaus nicht hochkompliziert, sondern eher einfach und von schlichter Eleganz.
Im Gesamten eine überzeugende Darlegung einer „erweiterten“ Evolution, die sich im Kern auf die mittlere, soziale Gruppe beruft und hier den Erwerb von sozialen Fähigkeiten in gleicher Weise bedeutsam begründet, wie die genetische Evolution. Ein hervorragendes Buch.