Zugegeben, Eileen Myles (Jahrgang 1949) war mir bislang kein Begriff. Dabei ist sie eine der wichtigsten queeren Erzähler*innen der USA und gilt als "Rockstar der Gegenwartslyrik". Mitte der 1970er Jahre zog sie nach New York und studierte am St. Mark's Poetry Project. Ihr Werk umfasst über 20 Bücher, darunter Essays, Romane und Gedichte. Im vorliegenden Band Chelsea Girls, der im Original bereits 1994 erschien, wagt sie einen Blick zurück in ihr Leben in New York in den 1970er Jahren.
Ihre erste Lesung gab sie im CBGB's, einem berühmten Club im East Village von Manhattan, in dem auch die Ramones und Patti Smith auftraten. Vielleicht liegt es deshalb nahe, Myles als Post-Punk zu bezeichnen, die ihre eigene literarische Avantgarde bildete und bis heute diesen Status noch inne hat. Auf den englischen Originalen ihrer Werke findet man Blurbs von Lena Dunham und Kim Gordon, die eine, aufstrebende Regisseurin und Autorin der 2010er Jahre, die mit ihrer eigenwilligen Serie Girls female Empowerment neu buchstabierte, die andere bildende Künstlerin, Kuratorin und Bassistin von Sonic Youth, einer der einflussreichsten female fronted New Wave Bands der Welt. Mehr Pop geht nicht. Nirvana wäre ohne die Empfehlung von Kim Gordon nicht berühmt geworden, so viel dazu und beide Bands einte das Engagement gegen Sexismus und Homophobie.
Myles selbst wird von Robert Mapplethorpe porträtiert, es ist für sie eine große Ehre von dem Fotografen und schwulen Künstler, dem Patti Smith in ihrer Biografie Just Kids ein würdiges Denkmal setzte, für die Nachwelt festgehalten zu werden. Mapplethorpe und Smith bildeten in den 70er Jahre eine eigene dynamische Avantgarde, Smith erinnert sich in ihrem Buch ausführlich an diese innige Freundschaft, die zeitweise auch eine Liebesbeziehung war und deren gemeinsamer Motor die Kunst, die Fotografie, das Schreiben bildete. Kein Wunder, dass Myles ebenfalls Smith als große Inspiration sieht.
Dennoch unterscheiden sich die Werke der beiden Künstler*innen massiv. Und das mag nicht nur an der queeren Perspektive von Myles liegen, die in ihrer Biografie im Detail ihre sexuellen Erfahrungen mit diversen Frauen verarbeitet und ihre Liebesbeziehungen und enttäuschten Hoffnungen thematisiert. Immer wieder auch vor dem Hintergrund, dass sie als lesbische Frau nie sicher sein konnte, ob sie für ihre Freundinnen nur ein angenehmer Zeitvertreib war, bis das richtige Leben und die wahre Erfüllung in der heterosexuellen Ehe wartete. Für Myles nie eine Option. Bis zur Schmerzhaftigkeit beschreibt sie ihre Suche nach Identität (ihre Kindheit und der Alkoholkonsum ihres Vaters sind ein Thema) und queeres Begehren und spart dabei auch nicht brutale Details einer Massenvergewaltigung unter Drogeneinfluss aus, die ihr als junge Frau angetan wird. Ihre Positionierung als Künstlerin und Schriftstellerin wird eben so verhandelt, wie die permanente Suche nach Drogen und Alkohol. Kein Wunder, denn Myles die ihrer Meinung nach als "Bastadt-Poetin" nach New York kam (ihr Arbeiterbackground unterschied sie deutlich von anderen Künstler*innen, die mehr Geld und Möglichkeiten hatten), hatte sich vorgenommen, dort für Aufsehen zu sorgen. Die Beziehung zu ihrer On-Off-Freundin Chris ist Thema, aber auch der Konkurrenzkampf und die Dynamik der Frauen untereinander, die nicht immer leicht nachzuvollziehen ist:
" Ich saß an in diesem funkelnden Sommerrestaurant mit meiner Freundin Chris, die immer für Ärger sorgte, aber Abende, an denen ich Geld hatte, waren okay. Wir saßen beide in dem Restaurant und schrieb ein Gedicht auf die Servietten: "Wie ein Faschist. Deine / Schönheit, … unsere Drinks.." Christine ließ die Gedanken schweifen, genau wie ich auch. Ich hatte ein T-Shirt von ihr an - ich arbeitete, aber sie besaß die neuen Klamotten. Das war irgendwie nicht richtig, aber es war absolut richtig, dass ich sie trug." (S.233)
Es ist nicht so leicht, dieses Buch zu lesen. Vieles wirkt wie im Gedankenstrom geschrieben, explizite Sexszenen gehören dazu. Würde man dieses Buch eher als authentischen und bahnbrechenden Bericht und Statement zur Protest-Undergroundkultur feiern, wenn er von einem Mann geschrieben worden wäre? Mit Sicherheit. Im Original ist der Text bereits 1994 erschienen, warum die Übertragung ins Deutsche so lange braucht, ist schwer zu verstehen.
In ihrer Radikalität unterscheidet sich Myles nicht von den Beat-Poeten wie Kerouac oder Ginsberg, in ihrer Thematisierung von Rauschzuständen eben so wenig. Kommen wir zum Patti Smith-Vergleich zurück.
Patti Smiths Bücher sind wie kleine Boote, die die Leser*in mit auf eine Reise nehmen, es geht um Schreiben und Kunst, Spiritualität und authentisches Dasein, sowie Erinnerungen. Ganz anders verfährt Myles. Eileen Myles hält sich gar nicht erst mit spirituellen Bezügen oder Begründungszusammenhängen auf. Ihr Buch ist authentisch, aber auch brutal, verwirrend und auch traurig und wirkt oft atemlos erzählt. Die Beschreibung ihrer Liebe zu einer Kindheitsfreundin, die unerwidert bleibt, gehört dazu und das Warten darauf, dass endlich etwas passiert und die Einschränkungen ihres Kleinstadtlebens enden. Kein Wunder, dass sie in New York so eskaliert.
"In meinem Zimmer, das ich als Kind hatte, einem Zimmer, in dem ich jetzt zum letzten Mal wohnte, verbrachte ich Stunden damit, den Frieden meines Bücherregals zu betrachten, all der Bücher, die ich gelesen hatte und inmitten dieses Friedens senkte sich mir die Magengrube ab. Spritzer schwarzer Tinte streiften die Einbände etlicher Bücher, Stories from Greece and Rome, um eines zu nennen und am Fuß des Bücherregals hinterließ ein nicht ganz abgekriegter Fleck schwarzer Tusche für immer eine Markierung auf dem Holzboden. Aber jetzt konnte ich diese beschädigte Perfektion anstaunen, diese vollendeten Bücher, und in diesem Sommer ging ich einfach ins Bett und stand wieder auf, als würde mich dieser Rhythmus als solcher in die Zukunft befördern, wo es mir erlaubt sein würde zu leben." (S.201)
Es sind Passagen wie diese, die Chelsea Girls als biografische Erinnerung so authentisch und letztlich absolut nachvollziehbar machen. Wer kann sich nicht an eine Phase seines Lebens erinnern, an der er/sie dachte, dass es irgendwann doch endlich losgehen muss mit irgendetwas, mit dem, was die ganze Zeit zum gelungenen Leben fehlt.