Rezension zu "Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch" von Marina Lewycka
Bisher von mir vernachlässigt: moderne ukrainische und russische Schriftsteller, die mir Aufschluss über die Verhältnisse in diesen Ländern geben und mir helfen sollen, mehr zu verstehen, die Ungeheuerlichkeiten zu erklären, falls das überhaupt möglich ist. Deshalb lege ich im Moment den Schwerpunkt auf diese Lektüre, hier die vergnüglich zu lesende Geschichte einer ukrainisch-stämmigen Familie in Großbritannien.
Dies ist wieder eines der Bücher, in dem man viele Themen vorfindet, die aber so gut in ein Gesamtpaket verpackt sind, dass man es nicht als zu viel empfindet, sondern darin die Fülle des Lebens gespiegelt sieht: Geschwisterrivalitäten, Erbstreit, Ehegeschichten, Liebe eines alten Mannes, Bevormundung alter Menschen, Vorurteile und Abschiebung und nicht zuletzt: die Geschichte des Traktors, der gar nicht so weit vom Panzer entfernt ist und dessen gesellschaftliche Relevanz der alte Vater in einem Buch beleuchtet.
Doch so vernünftig das klingt, ist der alte Mann gar nicht, denn er hat sich in die vollbusige blonde Valentina aus der Ukraine verliebt und will sie heiraten, er 84, sie 36 (Motto 'Titten und Traktoren'). Das ruft die eigentlich miteinander verfeindeten Schwestern Vera und Nadeshda (Nadia) auf den Plan, die Valentinas Gründe klar durchschauen (Aufenthaltsgenehmigung) und eine Heirat verhindern wollen.
Dabei erfahren wir nicht nur einiges über die familiäre, sondern auch über die ukrainische Geschichte. Wusstet ihr z.B. dass 1932/33 unfassbare 7-10 Millionen Ukrainer verhungert sind, weil Stalin die ganze Ernte und das Saatgut beschlagnahmt hat?
So wechseln ernste Themen mit slapstickartigen Einlagen wie z.B. dem Nachmittagskaffee mit Freunden. Auch wenn das respekt- oder pietätlos klingen mag, ich denke, so lernt man mehr als aus jedem trockenen Geschichtswerk.
Am Ende sind alle Fragen bis auf zwei beantwortet, aber es hat mich nicht gestört, dass etwas offen blieb, weil die Autorin das einleuchtend begründet hat.
Dieses Buch hätte sich gut für eine Leserunde geeignet, weil es Diskussionsfragen aufwirft, aber ich kann es auch zum vergnüglichen und nachdenklich machenden Allein-Lesen empfehlen und werde selbst gerne weitere von Lewycka probieren.
Bemerkenswerte Zitate:
'Es sind immer dieselben Typen, die an der Macht sind. Nur dass manche sich als Kommunisten bezeichnen, andere als Kapitalisten, wieder andere als Repräsentanten irgendeiner Religion.' (eBook 91)
'Im selben Tempo wie neue Wünsche geweckt werden, werden alte Ideale begraben.' (eBook 155)
'Russen, Deutsche, Amerikaner, alle ehe in der Ukraine doch nur das eine: eine Quelle für billige Arbeitskräfte.' (eBook 256)