Im Herbst 1993 kommt die Icherzählerin Selin aus New Jersey zu ihrem ersten Semester ans Harvard College nach Boston. Selins Eltern sind Mediziner und aus der Türkei in die USA eingewandert. Sie weiß, dass sie Schriftstellerin werden will und belegt dafür eine seltsame Mischung von Fächern und Kursen, die ihr gänzlich fremd sind. Denn Selin ist speziell - ihre Lebenserfahrung bezieht sie in erster Linie aus den zahllosen Büchern und Filmen, die sie gelesen und gesehen hat. Die übliche Obsession ihrer Altersgruppe mit Alkohol und Sex teilt sie nicht. Im Kurs Russisch für Anfänger lernt sie Iván kennen und lieben, einen ungarischen Mathematikstudenten kurz vor dem Abschluss, der sozial ziemlich inkompatibel ist und mit dem sie eine platonische Nichtbeziehung per E-Mail beginnt. Nach dem Ende des akademischen Jahres reist sie mit ein paar Freundinnen nach Paris und von dort - auf Iváns Vermittlung hin - weiter nach Ungarn, wo sie an einem Sommerprogramm teilnimmt, in dem US-Student_innen ungarischen Dorfkindern während der Sommerferien Englisch beibringen.
Ich habe dieses Buch gern gelesen und mich dabei angenehm unterhalten. Es ist klug und witzig und vollgepackt mit Ostereiern kultureller Referenzen. Im Gegensatz etwa zu den Rosie-Büchern von Graeme Simsion macht sich Elif Batuman über die schrulligen psychischen Eigenarten von Selin und Iván keineswegs lustig, im Gegenteil: Der Titel sagt es ja schon - sie sieht ihre Selin in der Nachfolge von Dostojewskis naiv-aufrichtigem Fürsten Myschkin, der kein Arg und kein Falsch kennt.
Und da sind wir auch schon an dem, was mich an diesem Buch so fundamental stört. Im Gegensatz zum bedauernswerten Myschkin, der mit seiner geradlinigen Güte an der intrigant-verlogenen Gesellschaft scheitert und am Ende zerbricht, kommt Selin glänzend in dieser ihr fremden Welt zurecht: Sie ist reich, sie ist klug, sie ist selbstbewusst, sie studiert ohne Anstrengungen und Probleme, sie hat Freunde und ein Sozialleben und irgendwann wird sie auch mit den Männern in irgendeiner für sie passenden Form zusammenkommen. Ihre türkische Herkunft erleichtert ihr das Ungarischlernen, da die beiden Sprachen in vielen Punkten verwandt sind.
Autofiktionale Literatur ist sonst meist gespickt mit Leid und Scham der Hauptfiguren. Elena aus Neapel muss darum kämpfen, aus den rigiden Strukturen ihres Viertels auszubrechen, Annie aus Rouen schämt sich für die Bildungsferne und Kulturlosigkeit ihres proletarischen Elternhauses, Karl Ove aus Kristiansand leidet entsetzlich unter seinen persönlichen Unzulänglichkeiten. Nichts davon muss Selin tragen, es fehlt der Figur und dem Buch komplett an Konflikten, Abgründen - und damit leider auch an Spannung.
Wie gesagt, man liest das dennoch gerne weg, es ist eine nette, etwas tantige und oberflächliche Wohlfühllektüre, vielleicht ein bisschen zu lang geraten. Im zweiten Teil, dem Sommer in Ungarn, kommt mir bei der Schilderung des putzigen ungarischen Dorflebens und der Gastfreundschaft der Leute, die ins Anstrengende münden kann, mehr als einmal die deutsche 1950-er Schmonzette „Ich denke oft an Piroschka“ in den Sinn. Die war auch so harmlos und nett.