Gustave Flaubert begleitet seine Hauptfigur Frédéric Moreau (ich scheue mich, von einem "Helden" zu schreiben), der gleich alt ist wie sein Schöpfer (Jahrgang 1821 nämlich) über den Zeitraum vom September 1840 bis zum Dezember 1851 (dem Staatsstreich Louis Napoléons, der das Ende der Zweiten Rebublik besiegelte), mit einem nachgeschobenen Epilog 1867 und 1869 - kurz vor Erscheinen des Buches.
Frédéric ist ein gutbürgerlicher Jedermann der französischen Julimonarchie. Als wir ihm erstmals begegnen, hat er gerade das väterliche Erbe erhalten (weit weniger als er gehofft hatte) und nimmt sein Studium der Rechte in Paris auf. Obwohl er nicht dumm ist, fällt ihm das Lernen schwer, einfach, weil ihn der Stoff nicht im mindesten interessiert. Viel wichtiger ist ihm ohnehin das Gesellschafts- und Liebesleben der Großstadt. Er verliebt sich in die tugendhafte Gattin des weit weniger tugendhaften Kunsthändlers Arnoux, verkehrt im Salon des Bankiers Dambreuse und freundet sich mit Zeitgenossen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und Überzeugungen an, vom reaktionären Adligen bis zum sozialistisch gesinnten Verkaufsgehilfen.
Frédéric ist intelligent, hat ein gewinnendes Wesen und sieht wohl passabel aus, aber nichts (und niemand) interessiert ihn so sehr, dass er wirklich Energie und Herzblut dafür verwenden würde. So scheitert er auf allen Ebenen: beruflich, politisch, gesellschaftlich - und amourös. Flaubert zelebriert dieses Scheitern mit einer leicht distanzierten Nonchalance, die dieses Buch in meinen Augen zu einem grandiosen Meisterwerk macht.
Oh, der arme, verwöhnte, selbstvergessene Frédéric fällt nie wirklich tief, es ist nicht wie bei Flauberts Zeitgenosen Victor Hugo, der seine Figuren gnadenlos in die Gosse des Elends stürzt. Wenn Frédéric sein Vermögen verliert, bleibt ihm immer noch so viel, dass er nicht arbeiten muss - und auch gesellschaftlich macht er sich nie so unmöglich, dass ihm alle Türen verschlossen bleiben würden! Man mag ihn und verzeiht ihm. Flaubert will das Bürgertum in seiner Nutz- und Hilflosigkeit bloßstellen - und dafür muss sein Held immer im bürgerlichen Rahmen bleiben.
Eingebettet ist die Handlung in einer sehr exakt verorteten Umgebung, dem absehbaren Ende des Regimes von Bürgerkönig Louis Philippe. Stimmung und die Tagesgesprächsthemen der Zeit werden akkurat rekonstruiert, man findet sich (auch dank der ausführlichen Anmerkungen) gut zurecht im Paris jender Tage. Wo Flauberts eigene politische Sympathien liegen, bleibt im Text allerdings unklar. Er benennt die Skandale und Skandälchen der Monarchie ebenso unerbittlich, wie er die Träumereien und scheinheiligen Partikularinteressen der Revolutionäre von 1848 bloßstellt und anschließend die brutale Repression der Bonapartisten zeigt.
Überhaupt hegt der Autor wohl keine sonderliche Sympathien für seine Helden: Keine der Figuren des Romans ist wirklich geeignet, uns für sich einzunehmen - mit Ausnahme des untadeligen Ladenschwengels Hussonet, den Flaubert freilich beim Staatsstreich vom Dezember 1851 ein klägliches Ende finden lässt.
Flaubert gelingt mit seinen "Lehrjahren" ein klarsichtiges Bild einer Epoche, ihrer Geisteshaltung und ihrer Zeitgenossen. Er zeichnet jenes opulente Panorama, das ich mir von Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" vergeblich erhofft hatte. Wo Proust sich selbstverliebt in pseudogelehrtem Geschwafel und seinen Obsessionen verliert, seziert Flaubert punktgenau das Seelenleben seiner Figuren.
Was mich dabei für das Buch so einnimmt, ist nicht so sehr der lehrreiche Einblick in das geschilderte Zeitalter (so sehr das auch zutreffen mag), sondern, dass Flauberts ebenso subtiler wie beißender Spott die Zeitläufte zu überdauern scheint. Gibt es da eine besondere Parallele zwischen den 1840-ern und den 1980-ern, der Zeit meiner eigenen Jugend? Oder ist seine Kritik am (bürgerlichen) Mann einfach universal?
Ich jedenfalls habe an vielen Stellen dieses großartigen Buches in der Schilderung des Scheiterns von Frédéric Moreau meinem eigenen jugendlichen Ich einen wenig schmeichelhaften Spiegel vorgehalten bekommen gefühlt: Mit Talenten gesegnet, aber einfach nicht entschlossen genug für eine große Karriere. Heimlich von höchsten Höhen träumend, aber nichts dafür unternehmend, sie wahr werden zu lassen. Ein etwas schusseliger Träumer, der insgeheim vom Schicksal erwartet, dass ihm Zukunft und Ruhm und Ehre und Geld auf dem Silbertablett serviert werden. Der sich bequem durchs Leben schlängelt und dann irgendwo im Mittelmaß landet und sich mit den Jahren allmählich damit abfinden muss, dass er weder Bundesligaprofi noch Bundeskanzler noch Milliardär noch Nobelpreisträger noch der Bettgefährte eines hinreißenden Filmstars werden wird, sondern zufrieden sein kann mit vier eigenen Wänden, einem geregelten Einkommen und einer nachsichtigen Familie.
Auch das Liebesleben Frédérics, das eine unerreichbare Person, ehrenhaft und brav, wenngleich für andere eher unscheinbar, in den Himmel hebt und vergöttert - und zugleich bei erreichbareren Objekten der Begierde aus Umständlichkeit und Pusseligkeit nicht zum Schuss kommt, vielleicht weil am Ende doch stilles Selbstmitleid der bequemste Weg ist - ach, auf einmal sehe ich mich wieder in der Oberstufe in der Raucherecke unseres Gymnasiums stehen und schmachtend hinüber zu Sabine aus der 11c schielen!
Wenn Sie Ihre Träume wahr gemacht haben, wenn Sie für Ihre Ziele alles gegeben haben, wenn Sie nicht so ein Schluffi waren oder sind - herzlichen Glückwunsch! Ob Ihnen dann die Education Sentimentale soviel geben kann wie mir, weiß ich allerdings nicht.