In den 1990er Jahren gehörte die Österreicherin Elisabeth Heresch zu jenen Autorinnen und Autoren, die das neuerwachte Interesse an Russlands vorrevolutionärer Geschichte mit Büchern über den letzten Zaren und seine Familie bedienten. 1992 veröffentlichte Heresch eine Biographie Nikolaus' II. Ein Jahr später folgte ein Buch über die Zarin Alexandra. Hereschs Buch über die Zarin weist erhebliche inhaltliche Parallelen zu der Biographie des Amerikaners Greg King auf, die 1994 erschien. Es ist nicht verwunderlich, dass Heresch und King ein Bild vom Leben und von der Persönlichkeit der Zarin Alexandra entwerfen, das viele Gemeinsamkeiten, aber kaum Unterschiede aufweist. Beide, Heresch wie auch King, nutzten im Großen und Ganzen dieselben Quellen, hauptsächlich Briefe, Tagebücher und Memoiren. Ergänzend zogen beide Autoren unveröffentlichte Dokumente heran, die sie bei ihren Recherchen in den neugeöffneten russischen Archiven gefunden hatten. Die Frage, welcher der beiden Biographien der Vorzug zu geben ist, lässt sich schwer beantworten. In erzählerischer Hinsicht ist Kings Buch besser gelungen. King behandelt auch einige Themen, die Heresch nur oberflächlich streift oder ganz auslässt, etwa die Ausbildung der Prinzessin Alix, der späteren Zarin.
In enger Anlehnung an die Quellen arbeitet Heresch alle wesentlichen Aspekte heraus, die seit langem das Alexandra-Bild bestimmen. Heresch bestätigt noch einmal, was bereits die Zeitgenossen wussten: Die Zarin war in ihrer Stellung fehl am Platze. Königin Viktoria, Großmutter der Prinzessin Alix von Hessen-Darmstadt, hatte Recht mit ihrer Vorahnung, dass ihre Enkelin auf lange Sicht in Russland nicht glücklich werden würde. Schon als Mädchen und junge Frau entwickelte Alix Persönlichkeitszüge, die sich später, nach ihrer Heirat mit dem jungen Zaren, als schweres Handicap erwiesen: Introvertiertheit, soziale Inkompetenz, inbrünstige Religiosität, moralische Strenge, Drang nach Abkapselung innerhalb der Familie und eines kleinen Kreises von Vertrauten. Ihren Pflichten als Zarin wurde Alexandra zu keinem Zeitpunkt in zufriedenstellender Weise gerecht. Die Hofgesellschaft und die Petersburger Aristokratie sahen in ihr eine humorlose, verkniffene, frömmelnde und spießige Langweilerin. Alexandras Ungeselligkeit und ihr Desinteresse an glanzvoller Hofhaltung wären noch zu verschmerzen gewesen. Schlimmer und folgenschwerer war, dass sich die Zarin in die Politik einmischte, ohne ein realistisches Bild von den Zuständen in Russland zu besitzen. Aufgrund ihrer selbstgewählten Isolation im Alexander-Palast von Zarskoje Selo hatte sie gar kein Gespür für das, was im Lande vor sich ging. Seinen katastrophalen Höhepunkt erreichte Alexandras schädlicher Einfluss auf den Zaren im Ersten Weltkrieg. Sehr anschaulich zeigt Heresch, wie die Intrigen der Zarin zum rapiden Ansehensverlust der Monarchie beitrugen. Alexandras starrsinniges Festhalten an der überlebten autokratischen Regierungsform wurde der ganzen Romanow-Dynastie zum Verhängnis.
Ist Hereschs Buch inhaltlich gelungen, so gibt es doch in formaler Hinsicht einiges zu beanstanden. Der gesamte Text ist mit Hunderten von Zitaten aus Briefen, Tagebüchern und Memoiren gespickt. Stellenweise nehmen die Zitate derart Überhand, dass der Erzählfluss holprig wird. Zu einem guten Buch gehört mehr als nur das geschickte Arrangieren von Zitaten. Mitunter werden ganze Briefe komplett zitiert. Viele der Zitate sind indes unnötig und verzichtbar, da sie keine interessanten oder wichtigen Informationen enthalten. Ärgerlich ist aber vor allem, dass bei der überwältigenden Mehrzahl der Zitate ein Quellennachweis fehlt. Heresch, eine promovierte Historikerin, diskreditiert sich durch den Verzicht auf einen ordentlichen Anmerkungsapparat als ernst zu nehmende Autorin (bei King ist der Anmerkungsapparat vorbildlich). Bei den meisten Zitaten ist für den Leser nicht erkennbar, woher sie stammen, wo man sie bei Bedarf und Interesse auffinden könnte. Im Anhang (S. 378/379) finden sich Nachweise für lediglich 43 Zitate. Woher stammt beispielsweise der Brief der Großfürstin Elisabeth, der älteren Schwester der Zarin, aus dem Heresch auf S. 167/168 zitiert? Liegt er irgendwo ediert vor, oder hat Heresch ihn bei ihren Archivrecherchen ausfindig gemacht? Mehrfach zitiert Heresch aus den Erinnerungen der Großfürstin Olga Alexandrowna, der jüngeren Schwester des Zaren. Man muss schon ein Experte sein, um zu wissen, wo man diese Erinnerungen finden kann, wenn man sie lesen möchte. Sie sind in dem Buch "The Last Grand Duchess" des Kanadiers Ian Vorres enthalten. Das sind nur zwei Beispiele für Hereschs nonchalanten Umgang mit Quellen und Quellennachweisen. Wer so viel mit Zitaten arbeitet, der sollte die Frage der Nachprüfbarkeit besonders ernst nehmen.
Alles in allem ist Hereschs Biographie der Zarin Alexandra auch 20 Jahre nach ihrem Erscheinen noch immer ein brauchbares Buch.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im August 2014 bei Amazon gepostet)