Rezension zu "Nach dem Wassertag" von Elisabeth Schneider
Der Roman „Nach dem Wassertag“ von Elisabeth Schneider nimmt die Leser mit auf eine Zeitreise in das östliche Europa, genauer gesagt das multi-ethnische Bosnien unter österreichisch-ungarischer Verwaltung zwischen 1886 und 1912. Über die Wirren, gute wie negative Entwicklungen dieser Epoche, erfährt man anhand eines Frauenschicksals, das in gewisser Weise als repräsentativ gelten kann, wenngleich der Roman neben der Hauptfigur Maria Wenzel auch einen alternativen weiblichen Lebensweg (den der Freundin) zeichnet, der fast utopische Züge trägt: ein Leben, gekennzeichnet von persönlicher Freiheit, Selbstbestimmung, eigener Welterkundung, Liberalität und Freizügigkeit auch in Liebesangelegenheiten. Im Zentrum aber steht die enge, strenge Welt der jungen Maria, hineingeboren in eine bäuerliche Familie von Donauschwaben, die in einem Dorf nahe der Grenze zu Serbien auf bosnischem Territorium Land zugewiesen bekommt und sich dort ansiedelt (urspr. aus dem Banat kommend). Diese Welt ist geprägt von einem fanatisch-strengen Protestantismus, von väterlicher Macht- und Gewaltausübung, schwerer Arbeit und Entbehrung. Es herrscht ein Denksystem, das jede Vergnügung als Sünde betrachtet. Zusätzlich wird dem Mädchen die von ihr so begehrte weitere Schulbildung versagt, denn nach wenigen Schuljahren geschieht Schreckliches: Eine Flut zerstört das Dorf, die Mutter stirbt in der Folge und die wissbegierige Maria muss fortan ausschließlich in der Landwirtschaft mithelfen und ihren Vater sowie fünf Brüder versorgen. Unglück prägt ihre Jugendjahre, zumal sie am Beispiel ihrer Freundin, die aus einer (bildungs-)bürgerliche Familie stammt, sieht, was Leben auch sein kann, welche Möglichkeiten und Freiheiten lebbar sind – auch für eine Frau.
Als sie einen jungen Mann kennenlernt, ist eine Verbindung mit ihm nur möglich durch eine Flucht: Sie lässt sich ,zur damaligen Zeit wohl nicht unüblich, von ihrem zukünftigen Mann entführen, , – zu dem Preis, den Kontakt zur Familie zu verlieren. Leider entwickelt der Ehemann ähnlich autoritäre Züge wie der Vater. Auch hier fließt im Roman Zeitgeschichte ein: Franz ist Arbeiter, organisiert sich in der Gewerkschaft, kämpft für die Rechte seiner sozialen Schicht – aber nur für den männlichen Teil. Auch er gesteht seiner Frau kein Recht auf weitere Bildung oder eigene Berufstätigkeit zu. Er übt physische Gewalt aus, vor allem unter Alkoholeinfluss. Es ist der Autorin anzurechnen, dass sie bei der Darstellung der Beziehung zwischen Franz und Maria nicht in Schwarz-Weiß-Malerei verfällt. Franz widerfährt sozusagen ‚erzählerische Gerechtigkeit‘, er ist eine Figur mit verschiedenen Facetten. Der Fokus liegt aber auf dem Leben und Leiden von Maria, die jedoch über ihre Opferrolle immer wieder hinauswächst, eigenständige Entscheidungen trifft, unermüdlich versucht sich einen Weg in die Welt zu bahnen, sei es durch ihren Unterricht für Nachbarsfrauen und -kinder, durch Selbststudium oder Arbeit in einem Hotel.
Der Roman folgt dem Paar über mehrere Lebensstationen, die mit Ortswechseln verbunden sind. So leben sie einige Zeit zum Beispiel in Sarajevo, wo sich Maria am wohlsten fühlt. Doch geschichtliche Ereignisse (Annexion Bosniens durch die österreichisch-ungarische Monarchie) und politische Spannungen zwischen den Völkern zwingen Maria und Franz mit zweien ihrer vier Kinder Bosnien zu verlassen und wieder einmal neu anzufangen; sie siedeln um nach Hamburg, wo Franz Arbeit finden kann und sie der drohenden Kriegsgefahr auf dem Balkan zu entkommen hoffen.
Diese Zugreise bildet den Rahmen der Handlung, über Erinnerungen von Maria während der langen Fahrt wird ihre Lebensgeschichte erzählt. Ihr individuelles Schicksal ist berührend, schildert aber eben auch ein Stück Zeitgeschichte, die darüber hinaus auch von technischer Seite beleuchtet wird: dem bahnbrechenden Aufbau einer Eisenbahninfrastruktur (Franz arbeitet bei der Bahn). Bildung aber bleibt das Hauptmotiv, das sich durch den ganzen Roman zieht, nur durch sie kann es auch Freiheit für Frauen geben.
Der Roman ist lebendig erzählt, oft stark szenisch gestaltet, doch liest er sich aufgrund seiner eher traditionellen Ausdrucksweise und des auktorialen Erzählstils an vielen Stellen wie ein Roman aus den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts, fast so, als stamme der Text aus der erzählten Zeit. Eine modernere Erzählweise hätte die Wirkkraft des Romans noch erhöht. Dennoch: eine empfehlenswerte Lektüre.