"Ihr Vater hatte sich aufgemacht, um ihr einen Ehemann zu suchen. Er hat sein Maultier genommen, eine Fotografie und Proviant eingesteckt ..". Der Erste Weltkrieg und die Spanische Grippe haben viele junge Männer dahingerafft, also ist ist Maria mit ihren 25 Jahren in Gefahr, unverheiratet zu bleiben. Doch sie bekommt ihren Ehemann, einen guten Mann sogar, ohne Verstümmelungen und stark und fleißig und sogar gut sieht er aus. Sie darf vor der Hochzeit fast nicht mit ihm reden und weiß recht wenig, was sie erwartet. Eine Jungfrau muss bluten, aber sie weiß nicht, wie und warum. Nur dass sie arbeiten kann und wird, das weiß sie von klein auf, als eine von sechs Schwestern und mit mehren Brüdern, mit nur drei Schuljahren.
Der Roman begleitet die Familie Marias durch die Zeit von 1923 bis 1950, meist aus der Sicht von Maria geschrieben. Das Leben ist geprägt von harter Arbeit, es gibt Selbstversorgungsanbau, alles wird verwertet, die Moralvorstellungen sind streng. "Hier geben Mütter ihren Söhnen mehr Essen als ihren Töchtern, damit die Söhne groß und stark werden und sich im Alter um sie kümmern". Ehemann Achille erwirbt einen Lebensmittelladen, der weiter mit der gleichen Arbeitsbereitschaft nach vorne gebracht wird. Maria erfährt Glück mit der Geburt der ersten Kinder, Eifersucht, Verluste. Sie bekommt die Macht der Männer über die Frauen zu spüren, die Politik. Die Familie erlebt den Faschismus, den Zweiten Weltkrieg, die unmittelbare Nachkriegszeit. Um sie herum werden nacheinander die Österreicher verteufelt, die Faschisten, die Deutschen, die Alliierten, die Partisanen, die Kommunisten.
Der Roman beschreibt das Leben der einfachen Leute, die Sozialmoral, das Familien- und Frauenbild im ländlichen Italien der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, die Auswirkungen der Kriege. Mich hat die Sprache abgeholt, es ist nichts gekünsteltes, dafür wird viel mit Andeutungen gearbeitet, quasi schwebenden Halbsätzen, Aussagen, die plötzlich im Raum zu stehen scheinen: "Er hat sie noch nie vor jemand anderem geschlagen, nur vor den Kindern." Nur.
Das wirkt insgesamt sehr unaufgeregt; mir drängte sich auf, als habe die Autorin darstellen wollen, dass sie Zustände beschreibt als das, was eben typisch ist, nicht anklagt. Überhapt, die Moral. Zu Beginn des Romans ist Maria noch die brave naive Unschuld, die nach Sünden sucht, die sie beichten kann, bereit ist zur Selbstkasteiung. Dann, durch die Ereignisse des Lebens, wächst ihre Erkenntnis, gleichzeitig steigt das Leid. Später kommt es zu einer Art Emanzipation (es passt nicht vom Alter her, aber lieber noch möchte ich "coming of age" sagen) - und dennoch kann Maria in Bezug auf ihre eigene Tochter nicht aus der Engstirnigkeit heraus, ist ebenso borniert und philisterhaft verlogen, wie es ihr Umfeld in ihrer Jugend war.
Interessant fand ich, dass die Kirche zwar präsent war, aber der Ehrbegriff quasi außerhalb davon existierte, fast archaisch wirkte. Die Ehre der Frau ist die Ehre der Familie - das verbindet man gerne mit anderen Kulturkreisen. Es gilt, "bella figura" zu machen: vor den Leuten, vor der Familie, mit dem richtigen Kleid zur Hochzeit, dem angemessenen Verhalten. Dabei wird zwar der Spiegel als Teufelswerk verdammt, gleichzeitig aber sehr darauf geachtet, anderen die eigene Stellung deutlich zu vermitteln.
Es gibt für die Hauptfigur Maria in ihrem Leben gleich zwei moralische Instanzen: Da ist zum einen "die Madonna der Berge", die Madonna unter Glas, die Maria aus ihrem Elternhaus migenommen hat und zu der sie betet, die sie überall hin mit umziehen lässt. In ihren Gebeten antwortet ihr die Madonna, ist ihr schlechtes Gewissen, ihr alter ego, treibt sie an, ihre sündigen Gedanken durch Selbstkasteiung zu zügeln, oder macht ihr Vorwürfe. Zum anderen ist da für Maria eher unfreiwillig bis widerwillig La Delfina, die Dorf-Verrückte, die vielleicht gar nicht so verrückt ist. Sie ist die einzige Frau, die ohne Hemmungen lebt, offen ausspricht, was sie gehört hat, bloßstellt. Beide sind Leitbilder - die eine ist strafend, streng und gnadenlos, die andere gnadenlos ehrlich und direkt. Letzlich werden beide Maria nicht loslassen.
Ich war insgesamt sehr beeindruckt von dem sehr unaufgeregten Roman, einzig das Ende war mit etwas zu überzuckert. 4,5 Sterne.