Weihnachten auf der Insel: Da buddeln sich bei mir in meinem Gedächtnis alle Klischee-Bilder von England an die Oberfläche, und ich denke an Mistelzweige, Sternsinger und Plumpudding, an verschneite Landschaften, idyllische Cottages und pittoreske Kirchen. Doch beinah zwangsläufig – als bekennender Christie-Fan – drängt sich mir auch ein anderes Bild auf. Ein zünftiger Weihnachts-Mord dürfte dabei eigentlich nicht fehlen: erschossen unterm Mistelzweig, vergiftet mit Plumpudding oder erhängt im Glockenturm eben jener pittoresken Kirche.
Nun, in dieser Anthologie sucht man Mord vergebens, dafür bietet dieses Büchlein aber ansonsten so einiges, was das anglophile Herz begehrt und erfreut. Der Dörlemann-Verlag hat hier eine feine Auswahl an sieben Geschichten von mir bisher eher unbekannten Autor*innen zusammengestellt, bei denen es mir große Freude bereitet hat, ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.
Saki aka Hector Hugh Munroe startet diese Anthologie mit „Reginalds Weihnachtssause“, die so herrlich „sophisticated“ von einer anämischen Weihnachtsfeier berichtet, die durch besagtem Reginald ein wenig aus den Angeln gehoben wird. Laurie Lee beschreibt in „Ein kalter Weihnachtsspaziergang auf dem Lande“ eben genau das: Unser namenloser Spaziergänger lässt uns an seiner bescheidenen Freude an der Landschaft Englands teilhaben. Martha Gellhorn erzählt in „Eins nach dem anderen“ wie Trauer und Verlust, die Sicht auf das Weihnachtsfest verändert und so aus einem freudigen ein unerträgliches Fest machen kann.
In „Bald haben wir Weihnachten, Miss“ von Sylvia Townsend Warner stöbert eine junge Frau in einem dieser gediegenen Dorfläden nach Weihnachtsgeschenken für Familie und Freunde und muss dabei feststellen, dass „gut gemeint“ nicht unbedingt mit „gut gemacht“ gleichzusetzen ist. Bei Elizabeth Taylor in „Nur eine Frage der Zeit“ sieht die jugendliche Heldin sich in ihrer pubertären Phantasie schon als erfolgreiche Autorin und merkt nicht, wie sehr sie mit ihrem Verhalten ihre Mutter verletzt.
Patrick Hamilton beschreibt in „Wann also sollte es soweit sein?“ den stetigen Verfall eines Mannes, der immer wieder „tote“ Momente hat und gerade am Weihnachtstag sich Gründe zurechtlegt, warum er eine bestimmte Frau töten muss. In „Die Zeit der Gaben“ erzählt Patrick Leigh Fermor, wie er als Reisejournalist im Jahre 1933 bei einer Wanderung durch Bayern die Gastfreundschaft der Bevölkerung zu Weihnachten erlebte.
Auf dem Markt gibt es Weihnachtsbücher zuhauf und jedes Jahr kommen „neue“ hinzu. Wobei die „Neuen“ oftmals nur die aufgefrischten Exemplare der Backlist sind, die ein zeitgemäßes Outfit und einen schmissigen Titel verpasst bekamen, aber leider die allseits bekannten Geschichten beinhalten.
Alle, der hier versammelten Autor*innen, hatten ihre Schaffensphase in der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts und galten bzw. gelten auch weiterhin als Könner*innen ihrer Zunft, die jeweils durch einen sehr eigenen Stil überzeugen. So bietet diese Anthologie eine ausgesuchte Auswahl an Geschichten, die auf vielfältige Weise unterhalten, und allesamt so wunderbar „very british“ daherkommen.
Wer allerdings auf der Suche ist nach Geschichten, die das eingangs beschriebene Klischee bedienen, sollte die Finger von diesem Büchlein lassen. Für dieses Klientel wäre das Buch eine herbe Enttäuschung. Stattdessen ist dies die absolut richtig Wahl für Leser*innen, die Erzählungen lieben, die so manches Mal recht „un-weihnachtlich“ daher kommen, fern vom Kitsch und vielleicht darum noch nicht überall bei „Hinz und Kunz“ erschienen sind.