Cover des Buches Idaho (ISBN: 9783446258532)
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Rezension zu Idaho von Emily Ruskovich

Versuche der Rekonstruktion einer Tragödie inmitten des Vergessens

von Caro_Lesemaus vor 6 Jahren

Kurzmeinung: Beeindruckend und zugleich enttäuschend. Literarisch ein schöner poetischer Text, inhaltlich ließ es mich etwas ratlos zurück.

Rezension

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Caro_Lesemausvor 6 Jahren
Ein flirrender Sommertag in Idaho, USA: eine Familie im Wald, die beiden Mädchen spielen, die Eltern holen Brennholz für den Winter. Die Luft steht, die Mutter hat ein Beil in der Hand – und innerhalb eines Augenblicks ist die Idylle zerstört. Ist es Gnade, dass der Vater, Wade, langsam sein Gedächtnis verliert? Bald wird er nicht mehr wissen, welche Tragödie sich an jenem Tag abgespielt hat, wie seine Töchter hießen und seine Frau, Jenny, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Auch Ann, die Frau, deren Liebe groß genug ist, um zu Wade in das leere Haus zu ziehen, wird nie den Hergang der Tat erfahren. Aber mit jedem Tag an Wades Seite erkundet sie genauer, was damals geschehen ist, und nimmt schließlich Kontakt zu Jenny auf. Ein atemberaubender Roman über das Unbegreifliche in uns.

Anhand des Klappentextes erwartete ich zunächst keinen Krimi, aber zumindest einen Spannungsroman über eine unbegreifliche Familientragödie. Das ist „Idaho“ nicht und die Inhaltszusammenfassung durch den Verlag dadurch irreführend. Vielmehr soll es um die Verlässlichkeit unserer Erinnerungen gehen, wobei ich hier den Ansatz der Autorin dazu nicht gelungen fand. Wenn es wirklich um das Gedächtnis und die Erinnerungen gehen soll, dann müsste der Roman aus Wades Sicht, der mit 50 an einer frühen Form von Alzheimer erkrankt, geschrieben sein. Die hauptsächlichen Gedanken zu den Geschehnissen und der Versuch einer Rekonstruktion geschieht aber vorrangig durch Ann, seine zweite Ehefrau, nachdem Jenny verurteilt wurde.
Nichtsdestotrotz beginnt der Roman spannend, ich wurde sofort in die Handlung hinein gesogen. Schriftstellerisch wird durch die poetische und detailreiche Sprache eine intensive, zum Teil bedrückende Atmosphäre geschaffen. Man fühlt sich in die Rauheit der Berge Idahos versetzt, was gut zur Gesamtstimmung der Geschichte passt.
Die Autorin nutzt Zeitsprünge in einem Kontext von über 40 Jahren und beleuchtet damit nicht nur die unfassbaren Ereignisse, die der Klappentext beschreibt, sondern im Laufe der Erzählung auch viele Nebenschauplätze. Irgendwann wurde es für mich ziemlich verwirrend. Die verschiedenen Erzählperspektiven fand ich dagegen nicht verwirrend, auch wenn sich häufig erst nach einigen Sätzen aus dem Kontext erschloss, in wessen Gedankenwelt man sich gerade befindet. Auch die beiden Mädchen kommen in kurzen Abschnitten selbst zu Wort. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich nicht immer gut verstanden haben. Aber ging das wirklich über „normale“ Geschwisterstreitigkeiten hinaus? Wäre es möglich, dass May ihre ältere Schwester an dem besagten Tag in einer Weise provozierte, dass sie sie im Affekt erschlug und Jenny nur die Schuld auf sich nahm, um ihre Tochter zu schützen? Oder könnte es nicht auch Wade gewesen sein, der die genauen Erinnerungen an diesen Tag aufgrund seiner eigenen Schuld verdrängt und deshalb Ann auch am Anfang ihrer Ehe, als die Demenz noch keine große Rolle spielt, nichts weiter über die Geschehnisse sagen kann oder will? Ich zog diese Dinge beim Lesen in Betracht, da mir Jennys Täterschaft irgendwann immer unwahrscheinlicher schien. Zumindest präsentiert die Autorin kein schlüssiges Motiv geschweige denn etwas, in das ich ein Motiv hätte hineininterpretieren können. Die Eindrücke, die man von Jenny erhält, stammen zum einen aus Sprüngen in die Vergangenheit zu ihrem gemeinsamen Leben mit Wade und zum anderen aus den Gedanken ihrer Zellennachbarin Elizabeth. Und diese Eindrücke passten für mich überhaupt nicht in das Bild einer Mutter, die ihre eigene Tochter erschlagen könnte. Auch nicht im Affekt.
Anns Versuche zur Rekonstruktion der Ereignisse sind eine Mischung aus Fakten, die sie aus verschiedenen Quellen bezogen hat und ihren eigenen Vorstellungen zum Ablauf. Sie phantasiert sich das Geschehene zum Teil zusammen, ohne dass die Autorin aufklärt, was genau nur Anns Phantasie entspringt. Irgendwann fragte ich mich nur noch „Warum eigentlich?“. Warum muss diese Frau unbedingt alles über die Tragödie erkunden? Warum schafft sie es nicht, sich darauf zu konzentrieren, ihrem Ehemann in seinem unermesslichen Schmerz und Verlust beizustehen, wo sie doch offensichtlich keine Fakten beschaffen kann, die sie der Wahrheit näherbringen? Ist es, weil auch sie Zweifel an Jennys Täterschaft hat? Den Eindruck hatte ich anhand ihrer Gedankenmonologe eigentlich nicht. Und warum hat sie Wade überhaupt geheiratet, so wenige Monate nach der Tragödie? Warum will sie irgendwann so unbedingt Kontakt zu Jenny aufnehmen, ohne dass Jenny es aber wirklich merken soll? Ich konnte Anns Charakter bis zum Ende einfach nicht verstehen. Man spürte ihre Hilflosigkeit, die sicherlich auch verständlich ist. Ihre Motivation und Handlungsweisen haben sich mir trotzdem nicht erschlossen, sie blieb mir fremd.
Letztlich sind all diese Fragen eigentlich egal, weil die Autorin keine davon beantwortet und alles offen bleibt. Gleichzeitig konnte ich durch die verworrene Geschichte mit zum Teil nicht zueinander passenden Schlüssen für mich selbst keine plausible Erklärung für die Tragödie oder Junes spurloses Verschwinden finden, was in letzter Konsequenz unbefriedigend ist. Bis zum Schluss hatte ich die Hoffnung, dass wenigstens irgendetwas noch aufgeklärt wird - zum Beispiel eben Junes Verschwinden, das immer wieder thematisiert wird. Ann stößt auch eine erneute landesweite Suche nach ihr an. Wohin kann denn bitte ein junges Mädchen jahrzehntelang verschwinden, ohne dass jemals eine Spur von ihr oder eine Leiche gefunden wird? Diese ungeklärte Frage war im Endeffekt vielleicht sogar das Frustrierendste für mich.

Fazit:
Am Ende des Romans hatte ich das Gefühl, wieder ganz am Anfang zu stehen. Nachdem ich den letzten Satz gelesen hatte, schoss mir unwillkürlich „Und jetzt?“ durch den Kopf. Welche Schlüsse kann ich aus der Lektüre ziehen? Ich weiß es nicht. Deswegen fällt es mir auch so schwer, das Buch zu bewerten, da ich es literarisch wirklich ansprechend fand und den Erzählstil selbst genossen habe. Ich interpretiere eigentlich gern selbst etwas in die Handlung eines Buches hinein und muss auch nicht unbedingt ein vollständig abgeschlossenes Ende haben. Hier war es aber eindeutig zu viel Offenes, zu viel Angedeutetes für mich. Der wunderbare Schreibstil konnte mich in letzter Konsequenz nicht über die offenen Fragen und meine damit verbundene inhaltliche Frustration hinweg trösten. Für mich war die Sprache 5 Sterne wert, der Inhalt nur 3 – sodass ich 4 Sterne vergebe.
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