Emily St. John Mandel schleicht sich langsam aber sicher in mein Herz und arbeitet an ihrem Status als eine meiner Literatur-Heldinnen und Helden. Vor ein paar Jahren las ich „Das Licht der letzten Tage“, auch unter dem Titel „Station Eleven“ bekannt und als Serie verfilmt. Ich mag Dystopien, das Weltende darf bei mir auch gern mal mit Zombies und anderen Monstern bevölkert sein. Aber die poetische, zutiefst menschliche Version, die Emily St. John Mandel von der Apokalypse entwirft, hat mich wirklich berührt. Als dann fünf Jahre später „Das Glashotel“ erschien, habe ich mir den Roman geholt, obwohl die Themen Finanzen, Investment, Schnellballsystem mich eher weniger interessierten. Deshalb lag der Roman tatsächlich ein paar Jahre rum, ehe ich ihn Mitte letzten Jahres gelesen und geliebt habe. Die Autorin kann einfach interessante Figuren kreieren, selbst die unsympathischen sind spannend. Und ihre Sprache ist einmalig leichtfüßig, ich komme bei ihr ganz schnell in einen Lesefluss, der den Roman quasi vorbeifliegen lässt.
2023 ist dann ein neuer Roman „Das Meer der endlosen Ruhe“ erschienen, ein dünnes Bändchen von rund 280 Seiten, das ich jetzt gelesen habe. Welche Entdeckung! Protagonistin Vincent aus „Das Glashotel“ löst die Geschehnisse aus, weitere Figuren aus dem Glashotel haben Auftritte. Allerdings muss man „Das Glashotel“ nicht gelesen haben, um den aktuellen Roman genießen zu können. Aber wie die Autorin, quasi als Schicksalsgöttin der Neuzeit, ihre Fäden über Romane, Jahrhunderte und Planeten hinweg spinnt und alles am Schluss Sinn ergibt, das ist für mich ganz großes Kino!
Die Handlung erstreckt sich über fünf Jahrhunderte. Wir begleiten Edwin St. Andrew, Spross einer Adelsfamilie, 1912 ins kanadische Exil, besuchen 2020 ein Konzert, das Vincents Bruder gibt und dabei ein Video verwendet, das Vincent als dreizehnjähriges Kind aufgenommen hat, Schriftstellerin Olive unternimmt 2203 eine Lesereise auf der Erde, eigentlich lebt sie mir ihrer Familie auf dem Mond, als plötzlich eine Pandemie das menschliche Leben bedroht, und den Abschluss bildet Gaspery-Jacques, der im Jahr 2401 als Zeitreise-Experte einer Zeit-Anomalie nachjagt.
Ich bin immer noch völlig davon beeindruckt, wie dieses komplexe Leseerlebnis auf 280 Seiten möglich ist. Jedes Kapitel habe ich gerne gelesen, aber als dann immer mehr rote Fäden aufgelöst werden, Puzzleteile plötzlich Sinn ergeben und schlagartig alles aufgelöst vor mir liegt, das sind die Aha-Erlebnisse, die ich als begeisterte Leserin brauche und nach denen ich süchtig bin. Bereits am 5. Januar ein Jahres-Highlight.