Cover des Buches Das Licht der letzten Tage (ISBN: 9783492060226)
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Rezension zu Das Licht der letzten Tage von Emily St. John Mandel

Überleben alleine ist unzureichend

von SalanderLisbeth vor 8 Jahren

Kurzmeinung: Eine Endzeitgeschichte, mal anders erzählt, poetisch, melancholisch, originell.

Rezension

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SalanderLisbethvor 8 Jahren

„Ein rasches Ende dieser Ausnahmesituation ist leider nicht wahrscheinlich“, sagte ein Nachrichtensprecher, was die Situation derart untertrieben darstellte, dass es in der Geschichte der Untertreibung wahrscheinlich einzigartig sein dürfte. Dann blinzelte er in die Kamera, und irgendetwas in ihm schien ins Stocken zu geraten, irgendein Mechanismus brach zusammen, der zuvor sein persönliches von seinem professionellen Leben getrennt hatte, und er wandte sich mit ganz neuer Dringlichkeit an die Kamera: „Mel“, sagte er, „mein Schatz, wenn du das siehst, bring die Kinder auf die Ranch deiner Eltern. Und benutze nur die Straße im Hinterland, mein Engel, keine Autobahnen. Ich liebe dich so sehr!“ Auszug Pos. 3530


Der mit mehreren Preisen ausgezeichnete Roman der jungen Kanadierin Emily St. Martin kam mit großen Erwartungen auf den deutschen Markt, schließlich stand er monatelang auf der New-York-Times-Bestsellerliste und nicht zuletzt hatte George R.R. Martin (Games of Thrones) ein begeistertes Vorwort geschrieben.
Mich hat mal wieder der poetische Titel und das wunderschöne Cover angezogen, bei dem die Farben von einem riesigen dunkelblauen Sternenhimmel in eine rosa getauchte Skyline verlaufen. Schon nach den ersten Sätzen war ich von der originellen Herangehensweise begeistert. Ich kann mir aber vorstellen, dass Leser, die eine actiongeladene Dystopie mit vielen heftigen Gewaltszenen erwartet haben, enttäuscht sind, denn es handelt sich vielmehr um einen leisen und nachdenklichen Endzeitroman mit ruhigen Dialogen. Mich hat besonders die melancholische, feine Sprache beeindruckt. Die Autorin hat einen klug komponierten, aber auch anrührenden, vielschichtigen Endzeitroman erschaffen.


Worum geht es?

Während einer Theateraufführung von Shakespeares ‚King Lear‘ erleidet der bekannte Schauspieler Arthur Leander einen Herzinfarkt. Trotz sofortiger Hilfe des im Publikum sitzenden Rettungssanitäters Jeevan Chaudhary verstirbt er noch auf der Bühne. Zur gleichen Zeit wird durch eine russische Passagiermaschine die „Georgische Grippe“ nach Nordamerika gebracht. Der gefährliche Virus ist derart hochansteckend, dass sich innerhalb kürzester Zeit eine Pandemie ausbreitet und schlussendlich fast 99 % der Menschheit vernichtet. Während das zivilisierte Leben auf der Erde zusammenbricht, sind die wenigen Überlebenden auf sich allein gestellt.
Es beginnt eine neue Zeitrechnung und wir springen ins Jahr 20. Eine zentrale Rolle spielt Arthur Leander, denn alle Figuren, denen wir im Laufe der Erzählung begegnen, stehen in irgendeiner Beziehung zu dem Schauspieler. Da ist Jeevan, der Sanitäter, der nach dem Ende der Welt einige Zeit mit seinem querschnittgelähmten Bruder zusammen lebt. Die Panik und Hilflosigkeit der ersten Tage beschreibt die Autorin anhand von Jeevan sehr authentisch, so dass man sich sehr gut in das Szenario reinversetzen kann. Da ist Kirsten, sie hatte als 8jährige eine kleine Rolle in dem Theaterstück. Nun hat sie sich einer Truppe fahrender Künstler angeschlossen. Die „Symphonie“ spielt unverdrossen zwischen den Trümmern von Siedlungen Stücke von Shakespeare. Immer nach dem Motto: ‚Überleben allein ist unzureichend‘. Durch das Theaterspielen knüpft Kirsten an die heile Welt ihrer Kindheit an, denn im Überlebenskampf hat sie sich auch einige Tote aufs Gewissen geladen, wie man an den Tätowierungen eines kleinen Messers für jeden Toten ablesen kann. Immer wieder taucht ein Comic auf, der das Leben auf einer fiktiven Raumbasis namens „Station Eleven“ (so der Originaltitel) schildert. Diese Graphic Novel wurde von Arthurs Exfrau Miranda geschrieben und spiegelt die eigentliche Geschichte wieder.



Die Grippe war damals wie eine Neutronenbombe auf der Erde explodiert, und es folgte eine Schockwelle – die ersten unsäglichen Jahre, als alle sich auf Wanderschaft begaben, bis den Leuten klar wurde, dass es keinen Ort auf der Welt gab, an dem das Leben so weiterging wie zuvor, und sie sich irgendwo ansiedelten und sich zur Sicherheit zu Gruppen zusammenschlossen, in Raststätten und ehemaligen Restaurants und alten Motels. Die Fahrende Symphonie bewegte sich zwischen den Siedlungen der veränderten Welt, und das seit dem fünften Jahr nach dem Zusammenbruch, als die Dirigentin nämlich ein paar Freunde aus dem Militärorchester um sich versammelte, den Luftwaffenstützpunkt verließ, auf dem sie gewohnt hatten, und sich ins Unbekannte aufmachte. Auszug Pos. 577



Geschickt springt die Autorin zwischen ihren Handlungssträngen hin und her und geht zeitlich sogar weit vor die Apokalypse. Trotzdem bleibt die fesselnde Story stimmig und rund. Dass die Beziehungen und Zusammenhänge sich nur langsam auflösen, stellte für mich einen großen Reiz dar. Diese kunstvollen Verflechtungen und das Rätseln darüber, wer nun was in der neuen Welt erlebt, haben mir großen Spaß gemacht. Indem die Autorin das Leben nach dem Zusammenbruch beschreibt, entwirft sie ein stimmiges Szenario. Die wenigen Überlebenden müssen z.B. ohne Strom, Benzin oder Medikamente zurechtkommen. Alte Flugzeuge werden als Häuser genutzt oder alte Pickups als Wohnwagen umgebaut. Inzwischen gibt es auch junge Menschen, die die alte Welt gar nicht mehr kennen. Die glaubhafte Beschreibung dieses Settings hat auf mich einen großen Sog entwickelt.


Fazit:

Eigentlich kann man diesen fesselnden und intelligenten Roman keinem Genre richtig zuordnen. Da ich mich einfach darauf eingelassen habe, wurde es für mich ein großes literarisches Ereignis. Denn Emily St. Martin schafft es mit viel Herzenswärme, dass man auch in einer tristen, wüsten Apokalypse Hoffnung und Trost und Anstand empfinden kann.
Nicht zuletzt ist es eine Hommage ans Leben, denn Mandel gelingt es, die Augen zu öffnen für die Schönheit unserer zerbrechlichen Welt.



Was beim Zusammenbruch verloren ging: So gut wie alles, so gut wie alle, aber es ist immer noch so viel Schönheit geblieben. Die Dämmerung in der veränderten Welt, eine Aufführung des Sommernachtstraums auf einem Parkplatz in der Stadt mit dem geheimnisvollen Namen St. Deborah by the Water, der Lake Michigan, der einen Kilometer weiter im Abendlicht glänzt. Auszug Pos. 740

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