Cover des Buches Grandhotel Angst (ISBN: 9783328100881)
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Rezension zu Grandhotel Angst von Emma Garnier

Wie eine klassische Gothic Novel

von Thoronris vor 7 Jahren

Rezension

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Thoronrisvor 7 Jahren

Der Klappentext zu diesem Buch hat mich sehr neugierig gemacht, doch obwohl eigentlich deutlich zu lesen war, was mich erwarten würde, hat mich das Buch doch überrascht. Ich hatte nicht damit gerechnet, eine echte Gothic Novel vorzufinden. Dieses Genre, das bei dem weiblichen Publikum des 18. und 19. Jahrhunderts sehr beliebt war, scheint heute beinahe ausgestorben, doch mit „Grandhotel Angst“ legt die Autorin einen Roman vor, der sich perfekt in diese Tradition einreiht.

Die typischen Charaktere einer Gothic Novel

Mit Nell haben wir die typische Protagonistin einer Gothic Novel: Sie ist hübsch, liebenswürdig, intelligent, aber gleichzeitig auch naiv. Ihre familiären Umstände haben dazu geführt, dass sie wenig von der Welt weiß, so dass sie dem viel reisenden, älteren Gentleman ohne weiteres verfällt. Auch ihr Ehemann Oliver ist eine klassische Figur aus diesem Genre: eigentlich sehr zuvorkommend und voller Liebe, doch geplagt von einem Geheimnis, das er lieber vor seiner Ehefrau geheim halten will.

Ein weiterer wichtiger Protagonist in den klassischen Gothic Novels ist auch immer das Haus: Ein prunkvoller, aber düsterer Bau, den die empfindsame weibliche Hauptfigur zunächst beeindruckend, dann jedoch zunehmend furchteinflößend findet. Das Gemäuer steht selbst meist unter einem Fluch und scheint wie eine handelnde Person in das Geschehen einzugreifen. So auch in diesem Fall, denn schon bald nach ihrem Eintreffen blickt Nell in einen Spiegel, durch den eine übernatürliche Kraft zu ihr Kontakt aufzunehmen scheint.

Die übrigen Personen um sie herum scheinen alle deutlich mehr über ihren Ehemann zu wissen, doch anstatt dass ihr jemand die ganze Wahrheit erzählt, beschränken sich die einen lediglich auf Andeutungen, während andere finstere Drohungen ausstoßen, um sie zu verschrecken. Auch hier folgt die Geschichte einem typischen Plot-Muster der Gothic Novels. Interessant ist allerdings, dass die Rolle von Oliver nicht ganz eindeutig ist. Denn bis zum Schluss kann sich der Leser nicht sicher sein, ob Oliver die große romantische Liebe ist, für die die unschuldige Nell ihr Leben riskieren sollte, oder ob er in Wirklichkeit der böse Antagonist ist, vor dem Nell sich besser verstecken sollte. Das ist geschickt gemacht und gelingt vor allem, weil das Buch vollständig aus ihrer Perspektive erzählt ist.

Ein klug gewählter Schreibstil, der trotzdem Schwächen hat

Generell steht in diesem Buch der Schreibstil vollständig im Dienste der Geschichte. Wenn wir die Geschehnisse nicht vollständig aus der Perspektive von Nell erleben würden, wäre es uns als Lesern vermutlich zu schnell möglich, die Wahrheit zu erkennen. So aber bleiben wir gefangen in dem Zweifel, ob nicht doch übernatürliche Kräfte am Wirken sind, ob nicht doch ein Fluch über dem Hotel oder über einzelnen Personen des Hotels liegt.

Trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass der Schreibstil ein wenig weniger dramatisch gewesen wäre. Wir erleben einen großen Teil der Geschichte in reflektierenden Rückblenden, die immer wieder durchsetzt sind von der klischeehaften Formulierung „Damals konnte ich ja noch nicht wissen“ oder „Wie naiv ich doch war“. Das ist ein durchaus übliches Stilmittel, das in dieser Form der Erzählung auch seinen Platz hat, doch es wurde ein wenig zu häufig für meinen Geschmack eingesetzt.

Für heutige Thriller-Leser vielleicht gewöhnungsbedürftig

Der Plot selbst ergibt am Ende tatsächlich einen Sinn, doch dafür muss man es als Leser zunächst aushalten, von einer Lücke in die nächste zu stolpern. Immer wieder finden wir uns desorientiert an Handlungsorten wieder, ohne recht zu verstehen, warum wir da sind, warum die anderen Personen da sind und was das eigentlich mit der Geschichte selbst zu tun haben soll. Ich musste mir zwischendurch ins Gedächtnis rufen, dass das Absicht ist, ansonsten hätte ich wohl schnell das Interesse an der Geschichte verloren. Wenn man jedoch durchhält, kann man rückblickend einen interessanten Plot entdecken, dessen einzelne Stationen Sinn ergeben und meisterhaft verwoben erscheinen.

Wenn man sich mit dem Wissen, dass dies eine sehr klassische Gothic Novel ist, auf den Roman einlässt, kann man wundervoll in die Welt am Ende des 19. Jahrhunderts eintauchen. Die historischen Umstände sind ebenso lebhaft wie bedrückend, die typischen Elemente werden eindrucksvoll in Szene gesetzt und man fiebert mit der Hauptperson mit. Für den Thriller-Leser der heutigen Zeit mag die Spannung nicht stark genug gewesen sein, doch mit der richtigen Erwartung ist das Buch trotzdem ein Genuss.

Fazit:

Der Roman „Grandhotel Angst“ von Emma Garnier ist eine gekonnte Wiederbelebung des romantischen Genres der Gothic Novels. Die klassischen Elemente dieser Geschichten werden von der Autorin meisterhaft zu einer spannenden Geschichte verwoben, bei der bis zum Schluss unklar ist, wer nun eigentlich der Bösewicht ist. Der Schreibstil ist passend, wenn auch manchmal zu sehr auf Dramatik ausgelegt. Für einen normalen Thriller fehlt eventuell die richtige Spannung, doch als Gothic Novel funktioniert das Buch wunderbar. Wer dieses alte Genre mag oder generell an historischen Romanen mit einem Hauch des Übernatürlichen Interesse hat, der sollte unbedingt bei diesem Buch zugreifen.

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