Rezension zu "Traurige Moderne" von Emmanuel Todd
Mit dem Buch habe ich einige erfüllte Stunden verbracht, viel Wissenswertes erfahren. Es gibt kaum einen wichtigen Aspekt, den Todd in seine Überlegungen nicht miteinbezogen hat. Die Ausführungen sind spannend, aufschlussreich, recht spektakulär und einfach großartig. Richtig gutes Futter fürs Hirn, daher empfehle ich das Buch sehr gern weiter.
Zum Autor laut Klappentext: „Emmanuel Todd, geboren 1951, einer der prominentesten und meistdiskutierten Soziologen Frankreichs. … Weltbekannt wurde er, als er 1976 in La chute finale den Zusammenbruch der Sowjetunion voraussagte. Seine Bücher … wurden zu Bestsellern.“
Schon in der Einführung, und oft genug im weiteren Verlauf, musste ich beim Lesen denken: Er ist wirklich gut! So unabhängig in seinem Denken, einer, der den Eliten nicht nach dem Munde redet, sondern eigene Meinung hat und diese prima zu vermitteln weiß. So messerscharf die Analysen. Echt stark! Er sieht die Dinge klar und nimmt kein Blatt vorm Mund, redet Tacheles, u.a. wenn es um Eliten und ihre Interessen geht, um die Arrangements, die diese mit der Arbeiterklasse treffen uvm. Dabei wurde in britisch-amerikanische, französische, deutsche, japanische Eliten unterschieden und ihr Verhalten basierend auf den unterliegenden Familienstrukturen erklärt.
Das Buch ließ sich insg. sehr gut lesen. Komplexe Zusammenhänge wurden verständlich, sehr zugänglich erklärt. Todd kommt sehr sympathisch rüber, auch weil er ohne Kunstgriffe auskommt, um sich beim Leser interessant zu machen. Das was er zu sagen hat, erzählt er ganz nüchtern. Und das reicht völlig aus. So fesselnd sind seine Inhalte, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag. Die Unterkapitel sind zudem kurz, was auch dazu verleitet, immer schön weiterzulesen.
Rund 500 Seiten sind in 18 Kapitel gegliedert, plus Vorwort der dt Ausgabe, plus „Anstoß“ und „Postskriptum“.
In der Einführung stellt Todd zunächst ein Modell vor, das in Anlehnung an Freud „Bewusstes, Unterbewusstes und Unbewusstes der Gesellschaften“ unterscheidet, was „eine geschichtliche Darstellung der menschlichen Gesellschaften und ihrer Veränderung“ möglich macht. S. 27. Weiter folgt u.a. die Familientypologie, die „reine Kernfamilie“, „Stammfamilie“, „exogame kommunitäre Familie“ usw. unterscheidet. Das wird man brauchen, um die späteren Ausführungen des Autors nachvollziehen zu können. Nach der Typologie kommt eine wohl begründete wie treffende Darstellung der Entwicklung der Menschheit aus anthropologischer und soziologischer Sicht von der Steinzeit bis heute. Einiges möchte ich besonders hervorheben.
Kapitel 12 „Das Hochschulwesen untergräbt die Demokratie“, in dem Todd u.a. darlegt: „Academia: Eine Maschine, die Ungleichheit produziert“. Hier spricht er auch vom „Wandel der Ideologie, Krise der Politik und Anstieg der materiellen Ungleichheit“ S. 307 ff., von der neoliberalen Revolution der 1980-ger Jahre, die sich still vollzog, aber ernste Folgen für alle hatte.
„Eine Krise in Schwarz und Weiß“, Kap. 13, ist auch sehr gut und erklärt die Ursachen der heutigen, gesellschaftlichen wie politischen, Situation in USA.
Zwischendurch gibt Todd einige interessante Lesetipps und zitiert spannende Absätze aus diesen Werken, z.B. S. 333 „Closing the Collaps Gap“ von D. Orlov.
Das Beste kommt aber zum Schluss. Die Analyse der heutigen Lage, darunter die Erklärung der Wahl Trumps, Kap. 14. Die letzten etwa hundert Seiten, im Kap. 17 „Die Metamorphose Europas“, insb. „Der Triumph der Ungleichheit in Europa“, „Das postdemokratische Europa – ganz normal“ und „Postskriptum. Die Krise der westlichen Demokratie“ sind besonders aufschlussreich und lesenswert.
Todd sagt u.a.: „Autorität und Ungleichheit sind jetzt die angemessenen Begriffe zur Beschreibung des europäischen Systems.“ S. 445 ff. Oder auch: „Das Votum der Völker in der Eurozone zählt nicht mehr. Griechen. Holländer und Franzosen können mit einem Referendum ablehnen, was sie wollen, ihr Votum wird wiederum von der politischen Führungssicht abgelehnt.“ S. 446 ff. Dass seine Ausführungen so manchen Politikern und anderen Märchenerzählern nicht passen wird, die die Menschen lieber fehlgeleitet wissen wollen, ist klar. Schon allein, dass er vom postdemokratischen Europa spricht, vor dem Hintergrund, dass er viel von der Ungleichheit, basierend auf Jahrhunderte lang gepflegten Familienstrukturen vorher geredet hat, lässt über den traurigen Zustand der Demokratie so einiges vernehmen. Todd sagt noch so vieles darüber, ganz unverblümt.
Spätestens hier wird klar, dass der Titel sehr gut ausgewählt und sehr treffend ist.
Was Todd im Kap. 18 über Gesellschaften mit kommunitärer Familie wie Russland und China sagt, erscheint auch sehr treffend: „Die im Russland des beginnenden 3. Jahrtausends vorherrschende autoritäre Demokratie ist wohl eher der Ausdruck einer politischen Mentalität des russischen Volkes als die Folge von Machenschaften eines Mannes und seiner Clique.“ S. 457. Oder auch: „Die russische Nation hat ihren inneren Frieden und ihre Sicherheit wiedergefunden und ganz sich auch menschliche Verhältnisse, die verlässlicher und angenehmer werden. Deshalb konnte ihr der Preisverfall beim Öl nichts anhaben, von dem die Schreibtischstrategen vergeblich erwarteten, das ‚System Putin‘ würde zusammenbrechen.“. S. 459.
China kommt bei ihm insg. nicht so ganz gut weg, zudem sagt er: „Mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern wird China zu Beginn des 3. Jahrtausends zu einem der Brennpunkte von Instabilität in der Welt werden.“ S. 477.
Im Postskriptum gibt Todd eine Art Ausblick und spricht u.a. über die postdemokratische Zukunft.
Fazit: Warum also „Traurige Moderne“ von Emmanuel Todd lesen? Viele Gründe gibt es hierfür. Z.B. um diese spannende, klare, unverstellte Sicht der Dinge kennenzulernen. Seine Erklärungen des Zeitgeschehens, die unterliegenden Muster der heutigen Entwicklung in Politik und Gesellschaft sind so plausibel und treffend, dass man sie einfach kennen MUSS. Diese Inhalte sollten zur Allgemeinbildung zählen. Das Buch gehört in jede gute Bibliothek. Schon allein all dies so klar und griffig, anhand von zahlreichen Tabellen, Grafiken, etc. präsentiert zu bekommen ist eine bereichernde und erfüllende Leseerfahrung.
5 wohl verdiente Sterne und unbedingte Lesepflicht.
P.S. Bemerkenswerte Stellen markiere ich oft mit gelben Klebezetteln. Die sehr wichtigen mit Magenta. Auf dem Foto sieht man, dass es in diesem Buch sehr viele von tollen Stellen gibt. Außerdem, dass die Einführung und die zweite Hälfte besonders wichtig und lesenswert sind.