Boniface de Castellane (1867-1932), in Frankreich und im Ausland unter seinem Spitznamen "Boni" bekannt, gehörte vor dem Ersten Weltkrieg zu den prominentesten Aristokraten Europas. Der Sohn einer provenzalischen Adelsfamilie, deren Ursprünge bis ins 11. Jahrhundert zurückreichten, machte in Frankreich und weit darüber hinaus als Dandy, Kunstkenner, Gastgeber und geistreicher Unterhalter von sich reden. Castellane gelangte zu märchenhaftem Reichtum, als er 1895 Anna Gould heiratete, eine Tochter des amerikanischen Selfmade-Millionärs und Eisenbahnmagnaten Jay Gould. Der Zugriff auf das Vermögen seiner Frau gestattete ihm einen Lebenswandel, der dem eines Herrschers gleichkam. Das von Castellane erbaute "Palais rose" in Paris wurde für einige Jahre zum Treffpunkt der europäischen High Society. Könige und Hoheiten aus aller Herren Länder gaben sich beim Ehepaar Castellane die Klinke in die Hand.
Castellane war das, was man heute einen "Promi" nennt. Für gut ein Jahrzehnt bot sein exzentrisches Tun und Treiben der französischen Boulevardpresse eine unerschöpfliche Fundgrube. Mal waren es seine elegante Garderobe und seine kostspieligen Equipagen, die für Gesprächsstoff sorgten, mal die Feste und Empfänge, die er gab, mal die Duelle, die er ausfocht, um seine Ehre zu verteidigen. Das turbulente und rauschhafte Leben endete 1906, als die Familie Gould genug von Castellanes Verschwendung hatte und Anna dazu brachte, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen. Ohne Vorwarnung wurde Castellane aus dem Palast geworfen, den er erbaut, aber nicht bezahlt hatte. Da seine eigene Familie kein nennenswertes Vermögen besaß, musste Castellane fortan durch Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen. Er schlug Kapital aus seinem hochentwickelten Sinn für das Schöne und Wertvolle, etablierte sich als Kunstexperte und Innenausstatter und entging dadurch dem drohenden sozialen Abstieg. Bis zu seinem Tode wurde er als Salonlöwe, Ästhet und Inbegriff des aristokratischen Savoir-vivre bewundert.
Ein Leben wie das des Boniface de Castellane ist ein dankbarer Gegenstand für einen Biographen. Der französische Historiker Eric Mension-Rigau, ein Experte für die Geschichte des französischen Adels und Großbürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, hat eine Biographie vorgelegt, die in gleichem Maße unterhaltsam und aufschlussreich ist. Das Buch verrät eine hohe Vertrautheit mit der Lebenswelt der französischen Oberschicht zu Zeiten der Dritten Republik. Die Aristokratie war keineswegs ein Fremdkörper innerhalb der republikanischen Ordnung. Mochte der Adel an politischem Einfluss verloren haben, so war er doch immer noch die gesellschaftlich und kulturell tonangebende Schicht. Den Eliten Europas und der USA diente er als Vorbild in Fragen des guten Geschmacks. Doch erlesenen Geschmack muss man sich leisten können. Finanziell einträgliche Ehen mit amerikanischen Erbinnen retteten im späten 19. Jahrhundert so manchen französischen Herzog, Grafen oder Marquis vor dem Ruin.
Castellanes Streben, die Werte und Traditionen des französischen Adels in der modernen Zeit am Leben zu erhalten, vor allem das Ideal einer kultivierten, verfeinerten Lebensweise, schlug im Laufe von elf Ehejahren mit über 70 Millionen Francs zu Buche. Da es in Frankreich keinen Herrscherhof mehr gab, schuf sich Castellane mit dem "Palais rose" eine eigene Bühne, auf der er sein Bedürfnis nach Prachtentfaltung ausleben konnte. Geld hatte für Castellane keinen Wert an sich. Die auf die Spitze getriebene "conspicuous consumption" während seiner Ehe mit Anna Gould war allerdings nicht repräsentativ für den französischen Adel der Jahrhundertwende. Viele Standesgenossen runzelten die Stirn über Castellanes aufreizend lockeren Umgang mit dem Geld seiner Frau. Sie fanden, er benehme sich wie ein neureicher Emporkömmling, nicht wie der Spross eines der ältesten französischen Adelsgeschlechter. Castellanes Hang zu pompöser Selbstinszenierung widersprach dem adligen Ideal vornehmer Zurückhaltung.
Legt man strenge Maßstäbe an, so kommt Boniface de Castellane keine wie auch immer geartete historische Bedeutung zu. Er hat nichts von bleibendem Wert geleistet oder geschaffen (das "Palais rose" wurde 1969 abgerissen). Und dennoch ist er in hervorragender Weise geeignet, den Habitus der europäischen Aristokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges herauszuarbeiten. Castellane war mit zahlreichen prominenten Adelsfamilien Europas verwandt und verschwägert. Wie viele Mitglieder des Hochadels war er Kosmopolit und Mitglied der "aristokratischen Internationale". Als Franzose war er Patriot, aber kein Nationalist. Als Ururgroßneffe Talleyrands fühlte sich Castellane der Wiener Ordnung und dem europäischen Mächtekonzert verpflichtet. Die Vernetzung des Adels über Ländergrenzen hinweg nährte in ihm die Illusion, Europas Oberschichten könnten den großen Krieg abwenden und den Frieden sichern. Im Sommer 1914 wurde er eines Besseren belehrt.
Auch nach dem Krieg blieb Castellane skeptisch gegenüber dem Nationalismus und dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung. Den Zerfall Österreich-Ungarns hielt er für ein großes Unglück. Deshalb warb er während der Pariser Friedensverhandlungen dafür, die Habsburgermonarchie in eine Donauföderation umzuwandeln. Castellane wollte die staatliche Zersplitterung Ostmitteleuropas verhindern, weil sie seiner Ansicht nach nur dazu führen konnte, dass die Mitte des Kontinents früher oder später unter deutsche Kontrolle geriet. Als Politiker war Castellane ein Amateur. Er verfügte zwar über vielfältige Kontakte und Beziehungen, er bewegte sich gewandt und sicher im Kreis der Mächtigen, aber er besaß keinerlei Einfluss, um sich und seinen Ideen Gehör zu verschaffen. Schon als Parlamentsabgeordneter (1898-1910) hatte Castellane die Politik nicht ernst genug betrieben, um Karriere zu machen. Ein Gentleman-Politiker wie er war den modernen Berufspolitikern von vornherein unterlegen. Politische Überzeugungen wie die seinen, die in den Ideen Metternichs und Talleyrands wurzelten, waren spätestens nach dem Ersten Weltkrieg obsolet.
In den Jahrzehnten, die Castellanes Leben umspannt, erlebte der französische Adel seinen endgültigen Abstieg in die politische Bedeutungslosigkeit. Er verlor auch seine Rolle als kultureller Trendsetter. Ein Mann wie Boniface de Castellane ist am ehesten als Repräsentant einer Übergangszeit zu verstehen. Als Liebling der Boulevardpresse stand er am Anfang des modernen Starkults und Celebrity-Rummels. Als Dandy und Ästhet verkörperte er hingegen das kulturelle Raffinement des 19. Jahrhunderts. Den Tod des einstigen "Königs von Paris" im Oktober 1932 empfanden viele Zeitgenossen als Ende einer Ära. Mension-Rigaus Buch leistet das, was von einer guten Biographie erwartet werden darf: Es spiegelt einen Menschen in seiner Zeit und umgekehrt. Castellane wird nicht nur als Individuum mit extravaganten Bedürfnissen und Neigungen gezeigt, sondern auch als Produkt von Familien- und Standestraditionen, als Vertreter einer sozialen Schicht, die mental noch immer dem Ancien Régime verhaftet war und ihrer einstigen unbestrittenen Vorrangstellung nachtrauerte. Mension-Rigaus Buch ist auch als sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Studie des französischen Hochadels im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert von großem Wert.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Oktober 2014 bei Amazon gepostet)