Rezension zu "Das DDR-Justizsystem" von Erich Buchholz
Immer wieder wird heutzutage behauptet, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen, wo Willkür gegenüber der Bevölkerung an der Tagesordnung war und wo der Bürger kein Mitspracherecht bei der Gestaltung des Lebens hatte. Dass all dies Unsinn ist, weist dieses Buch anhand zahlreicher Belege eindrucksvoll nach.
Das Buch verzichtet auf Polemik, ist keine Apologie des Gewesenen, sondern es ist eine wissenschaftlich-methodische Analyse der Justizsysteme der DDR und der BRD.
Der vollständige Titel des Buches, "Das DDR-Justizsystem - das beste je in Deutschland?", ist zwar ambivalent, nimmt einerseits eine Wertung vor, eine Fragestellung, die suggerieren könnte, dass der Analyst voreingenommen ist, andererseits ist es aber durchaus eine Fragestellung, die man als Ausgangspunkt nehmen kann, wenn die Analyse dann dennoch offen erfolgt und nicht nur einseitig nach genehmen Belegen für diese Frage sucht.
Professor Erich Buchholz wurde 1927 geboren, studierte von 1948 bis 1952 Jura an der Humboldt-Uni Berlin, wurde damals noch nach dem auch in der SBZ und der DDR geltenden bürgerlichen Recht ausgebildet, arbeitete aktiv an der Entwicklung und späteren Weiterentwicklung des Justizsystems der DDR mit und arbeitet seit Oktober 1990 als Rechtsanwalt, insbesondere als Strafverteidiger, in Berlin.
Als erstes betrachtet der Jura-Professor auf etwa 140 Seiten das Justizsystems der BRD, das uns ja bis heute begleitet und in der Kontinuität seit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 steht. Sehr akribisch und detailliert werden dabei alle Justizbereiche, die das bürgerliche deutsche Justizsystem aufzuweisen hat, beleuchtet. Alles wird ausgiebig durch Faktenmaterial überprüfbar nachgewiesen und auch, bei Bedarf, im umfangreichen Anmerkungsapparat erläutert.
Danach wird etwa genauso umfangreich und methodisch hochwertig das DDR-Justizsystem betrachtet. Es stand nicht mehr, nach der sozialistischen Umgestaltung, in der alten bürgerlichen Tradition, sondern war völlig andersartig aufgebaut und gestaltet. Auch die Funktionsträger in dem neuen System unterschieden sich, trotz der gleichen Berufsbezeichnung, drastisch von ihren Kollegen in der BRD. Das beginnt schon damit, dass in der DDR der Beruf des Rechtsanwalts, finanziell betrachtet, nicht gerade lukrativ war. Da die Gesetze so formuliert waren, dass sie von jedem normalgebildeten Menschen voll verstanden wurden, war kein Bedarf für diesen Berufsstand in größerem Umfang vorhanden. Auch war die Inanspruchnahme des DDR-Justizsystems von der untersten Gerichtsebene bis zur obersten fast völlig kostenfrei und die Formalitätsansprüche, an zB Anträge an das Gericht, gering und damit bürgerfreundlich. Oder: Richter und Schöffen wurden für alle Gerichtsebenen gewählt. Auf der untersten Ebene, den gesellschaftlichen Gerichten (Konfliktkommissionen in den Betrieben, Schiedskommissionen in den Wohngebieten) direkt von den Menschen bzw. für die höheren Ebenen (Kreisgerichte, Bezirksgerichte, Oberstes Gericht der DDR) durch die Volksvertretungen (Kreistage, Bezirkstage, Volkskammer).
Interessant, was die demokratische Gestaltung des Staates betrifft, ist auch, dass die DDR der einzige deutsche Staat bislang ist, in dem die Bürger über ihre Verfassung abstimmten. Dies geschah in der DDR 1968. Und ein zweiter gravierender Unterschied: Die DDR-Verfassung war unmittelbar geltendes Recht. Der Inhalt der Verfassung konnte im Grunde auf jeder Justizebene geltend gemacht werden. Deshalb war ein spezielles Verfassungsgericht auch nicht notwendig. Auffällig ist, dass dieses geltende Verfassungsrecht auch ein stabiles war. Die DDR besaß im Laufe ihrer 40-jährigen Existenz drei Verfassungen (1949, 1968, 1974). Anders als in der BRD wurde die Verfassung der DDR zwischendurch (bis Ende 1989) nicht laufende Meter durch die Herrschenden geändert. In der BRD wird die Verfassung den Gesetzen angepasst und nicht anders herum wie in der DDR, wo die Verfassung als geltendes Recht, die Gesetze der Verfassung folgen mussten.
Und auch das materiell geltende Recht war einfach und für jedermann verständlich in der DDR formuliert. Anders als der Paragraphen-Wirrwarr mit dem wir im heutigen Rechtssystem der BRD konfrontiert sind und die ständig Anpassungen und Änderungen unterliegen (sodass man nie genau weiß, was gerade rechtens ist), waren in der DDR die Gesetze über viele Jahre stabil. Es gab die Verfassung, ein Strafgesetzbuch, ein Zivilgesetzbuch, ein Arbeitsgesetzbuch und ein Familiengesetzbuch. Damit war im Grunde alles Relevante abgedeckt. Als Bürger der DDR fand man das Betreffende dann schnell in den entsprechenden Büchern, die es in vielen Haushalten gab bzw kostengünstig in jeder Volksbuchhandlung bei Bedarf zu kaufen waren.
Die Andersartigkeit des DDR-Justizsystems, zu dem der BRD, macht einen direkten Vergleich fast unmöglich. Der "Versuchs eines Vergleichs", wie es der Autor nennt, findet dann auch nur auf fünf Buchseiten statt und fasst eher nur nochmal die entscheidenden Gestaltungsmerkmale jeweils zusammen. Die letztendliche Beantwortung der Ausgangsfrage, siehe kompletter Buchtitel, liegt beim Leser.
Das Buch ist das erste, dass sich ausgiebig der Justizsystemanalyse der beiden deutschen Staaten annimmt. Die Betrachtung von Inhalten einzeler Gesetze bleibt hier außen vor und wartet noch auf eine nähere wissenschaftliche Betrachtung. Auch in Hinblick welche Gesetze mehr im Sinne der Masse der Bevölkerung waren/sind. Dieses Buch ist praktisch der erste Teil, der die Grundlagen und Rahmenbedingungen betrachtet, zu einer solchen Gesamt-Analyse, die sicher sehr umfangreich und interessant werden würde. Allerdings bezweifle ich, dass da sich jemand in naher Zukunft herantraut, denn der Paragraphenwald des bürgerlichen deutschen Rechts ist wohl selbst für viele Anwälte und Juristen kaum durchschaubar und nachvollziehbar.