Rezension zu "Katharina II. die Grosse 1729-1796: Kaiserin des Russischen Reiches" von Erich Donnert
Andreas_OberenderDie biographische Literatur über die russische Zarin Katharina II. (1729-1796) ist sehr umfangreich. Doch Quantität ist nicht gleichbedeutend mit Qualität. Zu oft stand in der Vergangenheit das turbulente Privat- und Liebesleben der Herrscherin im Mittelpunkt des Interesses. In den letzten Jahrzehnten waren in Deutschland viele Biographien der Zarin im Umlauf, mehrheitlich Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen (die Jahreszahlen in Klammern geben die Veröffentlichung der Originalausgaben an): Joan Haslip (1977), Henri Troyat (1977), Vincent Cronin (1978), Carolly Erickson (1994), Simon Sebag Montefiore (2000). Das sind populärwissenschaftliche Werke von begrenztem Wert; die meisten von ihnen sind längst in Vergessenheit geraten. Im angelsächsischen Raum und in Frankreich sind jedoch in neuerer Zeit auch einige Biographien entstanden, die mit wissenschaftlichem Anspruch auftreten, mangels Übersetzung hierzulande jedoch kaum Beachtung gefunden haben: John Alexander (1989), Hélène Carrère d’Encausse (2002), Simon Dixon (2009), Francine-Dominique Liechtenhan (2021). Einzig die kompakte Kurzbiographie von Isabel de Madariaga (1990) wurde aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Paradoxerweise hat die russische Historikerzunft wenig zur biographischen Literatur über Katharina II. beigetragen. Im späten Zarenreich musste der Historiker Vasilij Bilbasov die Arbeit an einer mehrbändigen Biographie der Monarchin auf Druck des Kaiserhauses und der Zensurbehörde abbrechen. Zu Sowjetzeiten war es aus ideologischen Gründen nicht möglich, Leben und Herrschaft der russischen Zarinnen und Zaren biographisch darzustellen. Doch auch nach dem Ende der Sowjetunion 1991 sind in Russland keine Biographien Katharinas II. entstanden, die sich mit westlichen Arbeiten messen könnten. Das ist ein Armutszeugnis für die russische Geschichtswissenschaft. Das Unvermögen, Katharinas Leben und Werk angemessen zu würdigen, steht in auffälligem Kontrast zum hohen Ansehen, das die Zarin im heutigen Russland genießt.
Die deutsche Osteuropaforschung hat sich seltener mit Katharina II. befasst, als man es angesichts der deutschen Herkunft der Zarin erwarten würde. Einen bedeutenden Beitrag zur wissenschaftlich fundierten Auseinandersetzung mit Leben und Herrschaft der Zarin leistete der ostdeutsche Historiker Erich Donnert (1928-2016). Als einer von wenigen DDR-Historikern konnte sich Donnert nach der Wiedervereinigung erfolgreich als Autor auf dem gesamtdeutschen Buchmarkt etablieren. Liest man seine Katharina-Biographie, die 1998 im Verlag Pustet erschien, so ist nicht zu merken, dass Donnert in der DDR sozialisiert und wissenschaftlich ausgebildet wurde. Er schaffte es nach der Wende, sich vollständig von der marxistischen Geschichtsauffassung zu befreien. Mit der Biographie der Zarin krönte Donnert seine langjährige Beschäftigung mit der Geschichte Russlands im 18. Jahrhundert. Etliche von Donnerts Arbeiten sind dieser Epoche der russischen Geschichte gewidmet: Studien über den Pugatschow-Aufstand von 1773/74 (1982) und die russische Aufklärung (1983) sowie eine Biographie Peters des Großen, die 1989 parallel in beiden deutschen Staaten erschien. Inzwischen liegt eine neue Biographie der Zarin aus der Feder des Mainzer Osteuropahistorikers Jan Kusber (2021) vor. Donnerts Buch ist damit keineswegs obsolet. Im Gegenteil, es ist auch heute noch unbedingt lesenswert. Es empfiehlt sich, beide Biographien zusammen zu lesen. Kusber behandelt einige Themen, die in den letzten 25 Jahren verstärkt in den Blick der Forschung geraten sind, bei Donnert aber unterbelichtet bleiben. Das gilt für Aspekte wie Katharinas Aktivitäten als Bauherrin und Kunstsammlerin oder auch die Religionspolitik der Zarin sowie Struktur und Funktionsweise des zarischen Hofes. Jenseits billiger Effekthascherei wurde in jüngerer Zeit auch die Rolle von Katharinas zahlreichen Liebhabern untersucht. Bei Donnert hingegen scheint dieses Thema Berührungsängste ausgelöst zu haben. Es ist problematisch, das Günstlingswesen (nahezu) komplett auszublenden und Katharina als Frau ohne Liebschaften darzustellen, so wie es Donnert in seinem Buch tut.
Donnert konzentriert sich ganz auf die klassischen Themenbereiche Innen- und Außenpolitik. Mit profunder Sachkenntnis und unter Bezug auf den seinerzeit aktuellen Forschungsstand erörtert er Katharinas Justiz-, Bildungs- und Verwaltungsreformen sowie die territoriale Expansion des Russischen Reiches durch die Teilungen Polens und erfolgreiche Kriege gegen das Osmanische Reich. Zwei Punkte sind hervorhebenswert. Donnert betont mehrfach, dass sich Katharina in ihrem politischen Handeln weniger von den Ideen der französischen Aufklärung und mehr von der in Deutschland praktizierten Kameralistik und Policeywissenschaft leiten ließ. Desweiteren streicht er heraus, dass Katharina in ihrer Reformpolitik vielfach auf Pläne aus der Zeit ihrer Vorgängerin, der Zarin Elisabeth, zurückgriff. Das gilt beispielsweise für das Schulwesen, den Wissenschaftssektor und die Anwerbung ausländischer Kolonisten. Es ist nicht statthaft, Katharinas Herrschaftsantritt zu einem politischen Neuanfang zu stilisieren. In manchen Fällen waren die Initiativen der Zarin weniger originell, als gemeinhin angenommen wird. Ein großer Vorzug des Buches ist die Quellennähe. Donnert lässt die historischen Akteure so oft wie möglich selbst zu Wort kommen, in erster Linie die Kaiserin. Dabei ist sein Umgang mit den Quellen kritisch und reflektiert, besonders im Falle von Katharinas berühmten, vielgenutzten Memoiren. Ausgiebig zitiert Donnert aus Katharinas Korrespondenzen mit Friedrich II., Voltaire und Baron Grimm. Westliche Briefpartner sollten als Katharinas Sprachrohre in Europa dienen. Die Zarin war bestrebt, mit ihren Briefen ein positives Bild von Russland und natürlich auch von ihrer eigenen Person und Herrschaft zu vermitteln. Zu den Aspekten, die in Donnerts Biographie zu kurz kommen, gehört auch das Familienleben der Zarin. Das Verhältnis zwischen Katharina und ihrem einzigen Sohn und Erben Paul war schwierig und konfliktträchtig. Rücksichtslos riss Katharina die Erziehung der Enkelsöhne Alexander und Konstantin an sich. In der permanenten Zurücksetzung und Demütigung des ungeliebten Sohnes zeigte sich die Herrscherin von ihrer unsympathischsten Seite. Gerade deshalb darf dieser Aspekt in einer Biographie nicht fehlen.
Einige (kleine) Schwächen und Mängel trüben den positiven Gesamteindruck des Buches. Donnerts Duktus ist oft sperrig und gewunden. Aufgabe des Verlages wäre es gewesen, den Text sprachlich zu glätten. Das Buch ist mit Abbildungen, zwei Stammtafeln und einem umfangreichen Anmerkungsapparat (Endnoten) ausgestattet. Leider fehlen Landkarten, ein ärgerliches Versäumnis. Es haben sich einzelne Fehler eingeschlichen, die das Lektorat hätte bemerken und beheben müssen: Katharina war schon 18 Jahre alt, nicht 13, als ihr Vater Christian August von Anhalt-Zerbst 1747 starb (S. 20). Karl Peter Ulrich von Holstein-Gottorp, der spätere Zar Peter III., war 1725, beim Tod Peters des Großen, kein Thronkandidat, da er erst 1728 geboren wurde (S. 26). Die bekannte sächsische Bergakademie befand sich in Freiberg, nicht Freiburg (S. 38). In den Kapiteln über den Staatsstreich vom Sommer 1762 und Katharinas Herrschaftsantritt weist Donnert darauf hin, dass etliche Zeitgenossen bezweifelten, Katharina sei die treibende Kraft hinter dem Coup gewesen. Er nennt als Beispiel Friedrich II. und beruft sich dabei auf den französischen Diplomaten Louis-Philippe de Ségur (1753-1830). Das Gespräch zwischen dem König und Ségur fand allerdings nicht im Januar 1763 statt, wie Donnert angibt (S. 80), sondern sehr viel später, im Januar 1785. Es ist rätselhaft, wie Donnert dieser Fehler unterlaufen konnte. Während seiner Reise nach Petersburg, wo er den Posten als französischer Botschafter antreten sollte, hielt sich Ségur für einige Tage in Berlin und Potsdam auf. Er wurde von Friedrich dem Großen empfangen. Seine Erinnerungen verfasste Ségur Jahrzehnte später, nach Napoleons Sturz. Seine Unterhaltung mit dem Preußenkönig gab er in direkter Rede wieder, was jeden Leser sofort stutzig machen muss. Ségurs Memoiren eignen sich überhaupt nicht als Beleg dafür, dass Friedrich II. in den Jahren 1762/63 geglaubt haben soll, die Brüder Orlov hätten den Sturz Peters III. im Alleingang organisiert und Katharina sei die Krone ohne eigenes Zutun in den Schoß gefallen.
Hinweis: Erich Donnerts Buch "Katharina die Große und ihre Zeit. Russland im Zeitalter der Aufklärung" (1983, weitere Auflagen 1996 und 2004) behandelt das russische Geistes- und Kulturleben im 18. Jahrhundert. Es ist nicht identisch mit der hier rezensierten Biographie.