Cover des Buches Auroras Anlaß (ISBN: 9783257217315)
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Rezension zu Auroras Anlaß von Erich Hackl

Rezension zu "Auroras Anlass" von Erich Hackl

von Youtopie vor 12 Jahren

Rezension

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Youtopievor 12 Jahren
Warum tötet Aurora ihre Tochter? Die Absicht, die Aurora mit dem Aufziehen einer Tochter verfolgte, war, ein genaues Ebenbild von sich zu schaffen; ein Ebenbild mit Prinzipien und Idealen, eine starke Persönlichkeit, die sich von nichts unterkriegen lässt. Sie erzog ihre Tochter Hildegart so, wie es schon vor ihrer Geburt geplant war und Hildegart entwickelte sich den Vorstellungen ihrer Mutter entsprechend zu einer starken Frau, die für die sozialistischen Ideale zu kämpfen bereit ist. Erst zu dem Zeitpunkt, wo Hildegart beschließt, nach London umzuziehen, ihre politische Arbeit und ihre Mutter in Spanien zurückzulassen, um einem Angebot eines Sexualwissenschaftlers nachzugehen, durchbricht sie das für sie vorgesehene Konzept Auroras. (S. 117 ff) Als Aurora das erfährt, vermutet sie zunächst „dunkle, außenstehende Mächte“, die probieren einen Keil zwischen die intakte Mutter-Tochter-Beziehung zu stoßen, merkt dann aber recht schnell, dass die eigene Tochter ihren Plan, den perfekten Menschen zu erschaffen, zunichte macht. (S. 119 „Dann bist du verloren. Zu schwach, um deinen Zielen treu zu bleiben.) Der von ihr ins Leben gesetzte perfekte Mensch, scheint in ihren Augen plötzlich gar nicht mehr so perfekt zu sein und sei deshalb des Lebens nicht mehr würdig. Es scheint ihr fast peinlich zu sein, in Form von Hildegart doch nicht die Perfektion erreicht zu haben; sie sieht die Schuld aber in der genetischen Information der väterlichen Seite. Als Begründung für den Mord an Hildegart führt sie das Beispiel von Kain und Abel an. Kain, welcher seinen Bruder tötete, bringe man immer mit dem Bösen in Verbindung, wobei man ihrer Meinung nach hinter die Fassade blicken müsse. Man würde erkennen, dass es eigentlich Abel ist, der den Tod verdient habe, da er faul und träge, außerdem nicht bereit zu kämpfen sei. Kain personifiziere den Fortschritt, der die schlechten Eigenschaften, in Form von Abel, eigenhändig und selbstständig auszulöschen probierte. Dies müsse man ihm positiv anrechnen, da er durch das Beseitigen von „Hindernissen und Widerständen“ dem Fortschritt freie Bahn machen wollte. (S. 119 ff) Mit Hilfe dieses biblischen Gleichnisses probiert Aurora das Töten ihrer Tochter zu rechtfertigen. „Das Opfer hat den Täter veranlasst“ (S. 121) ist die Begründung, die zum Verständnis des Mordes an Hildegart beitragen soll. Hildegart, die mit ihrem Sinneswandel nun plötzlich auch ein Hindernis darstellt, müsse zum Wohle des Fortschritts beseitigt werden. Welche Rolle spielt das Menschenopfer im Buch Genesis 22, 1-19? Die Bereitschaft Abrahams, seinen eigenen Sohn Isaak ohne Zögern für seinen Gott zu opfern wird hier als uneingeschränkte Gottesfürchtigkeit ausgelegt. Meiner Meinung nach wäre es etwas makaber, wenn man dieser Geschichte so glauben mag, das Vertrauen einer Person mit dem Ermorden einer dritten Person auf die Probe zu stellen. In dieser biblischen Geschichte ist Abraham am Ende der Gute, weil er bereit gewesen wäre, seinen Sohn zu töten. Im Gegensatz dazu stehen Erzählungen wie z.B. „Der kaukasische Kreidekreis“ von Berthold Brecht, in denen die Mutter, die bereit ist, im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen zu gehen, um das Kind für sich zu behalten, am Ende die Böse ist, während die, die nachgibt und sich um das Kind sorgt, am Ende belohnt wird, weil sie nicht bereit war, dieses Menschenopfer zu bringen. Fazit „Nimm deinen einzigen Sohn Isaak, den du so liebst, gehe und bringe ihn als Brandopfer dar“ – Dieses Zitat birgt meiner Meinung nach einen inneren Widerspruch. Wie kann die Liebe zu einem Gott größer sein, als die Liebe zum eigenen Kind? Wie kann man aus Liebe zu einem Gott den Tod des eigenen Kindes verantworten? Es ist das Kind, welches einem heilig sein sollte, welches einem wichtiger sein sollte, als jeder Gott und jeglicher Fortschritt. Es ist traurig, dass Aurora in ihrem Kind nur die Erfüllung eines Wunschbildes sieht, welches sich wie ein Mosaik Steinchen für Steinchen zusammensetzt. Sie liebt nicht den Menschen, sondern bloß die Attribute, die sie dem Kind vererbt oder anerzogen hat. In diesem Falle war es bloß eine Frage der Zeit, wann das erste Steinchen nicht mehr in das Gesamtbild passt; womöglich hätte Aurora ihr Kind schon direkt nach der Geburt umgebracht, wäre es ein Junge geworden. Fiktiver Brief an Erich Hackl Sehr geehrter Herr Hackl, ich habe Ihren Roman Auroras Anlass mit großer Freude gelesen. Ich war zutiefst beeindruckt, wie kalt und unmenschlich und gleichzeitig mütterlich und manchmal übertrieben fürsorglich Sie die Figur der Aurora erschaffen haben. Die Rationalität und die Berechnung, die charakterisierend für Aurora ist, ließ mich über die heutige Gesellschaft im modernen Westeuropa nachdenken. Aurora scheint mir eine für ihre Zeit sehr fortschrittliche und moderne Frau zu sein und genau das ist ja auch ihr Ziel: der Fortschritt. Doch ist sie das wirklich? Dieses für die 20er und 30er Jahre moderne Gedankengut, einen perfekten Menschen erschaffen zu können, müsste doch dann inzwischen in der heutigen Gesellschaft angekommen und verbreitet sein. Und mit Erschrecken stelle ich fest, dass genau das der Fall ist. Genau wie Aurora probieren heute die Wissenschaftler sich einen perfekten Menschen zu züchten. Inzwischen lassen sich die potentiellen Väter für das Kind aus dem Katalog aussuchen, Kinder können inzwischen als ein perfektes Abbild des Elternteils geklont werden. Doch wohin führt all das? Sehr geehrter Herr Hackl, es ist wirklich erschreckend wovon Sie da berichten und mit welch einer Wirklichkeitsnähe Sie das dem Leser vermitteln. Ich hoffe, das Aurora-Syndrom entwickelt sich zukünftig eher rückläufig. Doch nun habe ich einige Fragen an Sie: Glauben Sie, eineiige Zwillinge sind identische Klone voneinander? Glauben Sie, es gibt eine Seele und wenn ja, ist sie vererbbar? Haben Sie Kinder und welche Erwartungen stellen Sie an sie? Hochachtungsvoll, Julian Ide Mit der ersten Frage versuche ich die Meinung des Autors zu dem Klonen von Menschen herauszufinden. Eineiige Zwillinge sind meiner Meinung zwei vollkommen unterschiedliche Individuen und man kann nicht von Klonen sprechen, obwohl sie das gleiche genetische Erbmaterial besitzen. Ich halte die gesamte Diskussion über Gentechnik für überflüssig, da Charaktereigenschaften oder andere individuelle Attribute, wie z.B. Kriminalität oder Homosexualität nicht vererbbar sind. Das heisst, würde man einen homosexuellen Menschen als nicht perfekt bezeichnen, würde es noch immer vom Zufall abhängen, ob ein Neugeborenes im Laufe seines Lebens nicht irgendwelche „unperfekten“ Attribute erlangt oder ausbildet. Die zweite Frage geht in die gleiche Richtung. Ich denke, es ist die Seele, die einen Menschen ausmacht. Die Seele ist individuell, wird geformt durch Erfahrungen und Erlebnisse, Gedanken und Meinungen und lässt sich nicht vererben, höchstens zum Teil durch Erziehung weitergeben. Mit der dritten Frage probiere ich Hackls Einstellung zu Auroras Erziehung herauszufinden. Hildegart ist für Aurora bloß eine Art Check-Liste an der sie die Häkchen für ihren perfekten Menschen machen kann. Eine Erwartungshaltung wie die Auroras lässt sich von keinem Menschen erfüllen. Was halten Sie von der Rezension?/ Eigene Rezension Auf mich als Leser wirkt die mir vorliegende Rezension sehr ansprechend, da sie sehr bildhaft geschrieben ist. Die Elemente des Romans „Auroras Anlass“ werden rezeptartig aufgezählt und in einer fiktiven Vorgangsbeschreibung zu einer Pastete verarbeitet, der Roman als Gesamtwerk wird als misslungen betitelt, die Pastete als verbrannt. Ich kann nur teilweise der Kritik des Rezensoren zustimmen. Die Spannung in dem Buch hält nicht lange an (der saftige Biss in die Mitte schnell hinuntergeschluckt), durch das vorweggenommene Ende rückt das restliche Geschehen des Buches in den Hintergrund und wirkt auf dem Leser sehr hingezogen und teilweise sogar langweilig. Als störend empfand ich auch die Original-Zitate, die unverändert in den Roman eingebaut wurden. Sie erschwerten den Lesefluss und rissen den Leser permanent aus der erschaffenen Romanwelt. Jedoch halte ich den Inhalt des Romans für überaus interessant und keineswegs effektheischend und übertrieben. Hackl hat es geschafft, dem Leser einen spannenden Einblick in die Psyche einer kranken Frau zu geben, ohne diese zu verurteilen oder anzuprangern. Gut gelungen ist ihm außerdem die Erschaffung einer Gesellschaft, die den zugegebenermaßen modernen Ideen einer solchen Frau kritisch gegenüber steht und ihr das Leben so schwer wie möglich zu machen probiert.
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