Cover des Buches Das Löwenmädchen (ISBN: 9783462039733)
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Rezension zu Das Löwenmädchen von Erik Fosnes Hansen

Rezension zu "Das Löwenmädchen" von Erik Fosnes Hansen

von rumble-bee vor 13 Jahren

Kurzmeinung: Rezension folgt später - ich muss dieses Panoptikum erstmal verdauen. Gefallen hat es mir aber!

Rezension

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rumble-beevor 13 Jahren
Dies ist eines jener Bücher, bei denen man sich fast scheut, überhaupt eine Rezension zu verfassen. Denn man kann eigentlich nur in eine von zwei Fallen tappen: entweder man konzentriert sich rein auf den Inhalt, man erzählt die Geschichte nach, und verfehlt dabei völlig das pralle und kunstvolle schriftstellerische Handwerk, das hier vor dem Leser ausgebreitet wird. Oder man verfasst eine etwas stolpernde akademische und trockene Abhandlung, im mangelhaften Bemühen, dem Buch wenigstens literarisch gerecht zu werden. Eine Mischung aus beidem müsste es eigentlich sein - doch dabei hätte man so viel zu tun, dass es eigentlich zwei Rezensionen werden müssten. Eine unmögliche Aufgabe? Nein, ein Buch, das mehr bietet als nur Inhalt - und ein literarisches Kunststück, das aus mehr besteht als nur bezauberndem Schreibstil. Der Autor, Erik Fosnes Hansen, war mir schon vom "Choral am Ende der Reise" her bekannt. Auch in jenem Buch geht er von einem tatsächlichen Ereignis aus, um dann eine fiktive Biographie damit zu verknüpfen. Hier ist es ganz ähnlich. Tatsächlich hat es solche Fälle von extremem Hirsutismus, wie es in der medizinischen Fachsprache heißt, gegeben, und im letzten Drittel des Buches werden sie sogar genannt, u.a. Julia Pastrana, die als "Affenfrau" in Varietés auftrat. Erik Fosnes Hansen erdenkt sich jedoch ein kleines Mädchen, Eva, das im ländlichen Norwegen zu Beginn des letzten Jahrhunderts geboren wird. Ihre Mutter stirbt bei der Geburt, und ihr Vater, der schon immer Eigenbrötler war, verkriecht sich noch mehr in seinen Beruf als Stationsvorsteher der Bahn. Diese Ausgangslage ermöglicht es dem Autor, nun frei zu walten und sein Talent voll auszuleben: größtenteils aus Evas Sicht bringt er nun zwei Dinge zuwege, nämlich erstens ein sehr authentisches und teils stark ironisch gefärbtes Zeitporträt, Kleinstadtmentalität inklusive, und zweitens die persönliche Geschichte und Selbsterkundung Evas. Beides ergänzt sich vortrefflich, ja man könnte sogar sagen, dass Eva vielleicht nicht so sehr "sie selbst" geworden wäre, wenn sie nicht vor dieser starren Folie einer rigiden Provinzstadt aufgewachsen wäre. Das Buch ist dabei in drei Abschnitte unterteilt. Im ersten Teil kommt Eva als Erzähler noch nicht vor - es ist eher ihre Vorgeschichte und die ihrer Eltern, die hier geschildert werden.Ein Eröffnungstableau der Stadt sozusagen. Die Perspektiven wechseln dauernd, und gerade auf diese Weise bekommt der Leser genau mit, "woher der Wind weht" in dieser Kleinstadt. Der Kantor, der heimlich in Evas Mutter verliebt war - die Apothekersleute, die eigentlich Kommunisten sind - der Arzt, der viel lieber Karriere machen würde und in Eva eine Chance auf Ruhm sieht - der Vater, der mit Evas Mutter sein einziges Stück Glück in diesem Leben verloren hat - die Amme, die sich als Einzige Eva auch persönlich nähert - und so weiter und so fort. Bewegend, vielschichtig und farbig. Im zweiten Abschnitt haben wir es mit Evas Heranwachsen zu tun, ihrem Alltag. Man erfährt, wie Evas Seele geformt wurde, welche Kräfte auf sie einwirkten. Die Perspektiven wechseln nicht mehr ganz so häufig - dennoch bleibt Eva noch merkwürdig unpersönlich, immerzu heißt es "sie". Manchmal auch: "ich" sehe "sie". Es wird eine eigenartige Distanz zum Erzählten geschaffen, und dadurch wirken eben Evas teils drastische Konfrontationen mit der Wirklichkeit umso bedrückender. Der Autor schafft es, die Erzählung in einer kunstvollen Schwebe zu halten, so dass vom Leser durchaus Denkarbeit verlangt wird, um dem Erzählten zu folgen. Denn woran es an äußeren Erlebnissen vielleicht mangelt, das wird innerlich mehr als wett gemacht. Eva verbringt ihre Zeit häufig eingeschlossen iin ihrem Zimmer über der Bahnstation, wird dadurch aber zum umso unbestechlicheren Beobachter ihrer Umwelt. Gnadenlos seziert sie Heucheleien und Unsicherheiten der Erwachsenen - durch ihr Schicksal früh zum Erwachsenwerden verdammt. Sie zeichnet, morst, und freundet sich heimlich mit dem Funker der Bahnstation an (dies ist die einzige ausführlichere Erzählhandlung in diesem Abschnitt). Und langsam, sehr langsam, tritt sie auch mit ihrer Umwelt in Kontakt - was bei weitem nicht immer erfreulich verläuft. Der dritte Abschnitt, so könnte man sagen, umfasst ihre Pubertät, und ihre Kontaktaufnahme mit der Welt als "Fall". Eva reist mit ihrem Vater nach Kopenhagen, um an einem Weltkongress von Hautärzten teilzunehmen. Dort wird sie "entdeckt", bestaunt, befingert... ja, und wir ahnen es, hier geht es schon los, hier wird ihre Wehrlosigkeit von Erwachsenen zum ersten Mal ausgenutzt. Ich möchte nicht näher ins Detail gehen! In der Folge setzt sich Eva, nach der überstürzten und kommentarlosen Abreise aus Kopenhagen, intensiv mit sich und ihrem eigenen Körper auseinander. Sei es allein, auf ihren häufigen Abwesenheiten von der Schule, oder sei es mit - ja, mit einem Jungen... Arvid ist der einzige ihrer Schule, der sie auch als Mensch zu sehen beginnt. Mit ihm erlebt sie heimliche Momente der Zweisamkeit. Doch auch dieses Glück ist von kurzer Dauer, denn es kann nicht ausbleiben, dass Arvid sich irgendwann für "richtige" Mädchen zu interessieren beginnt... bei der Vorbereitung zu einer weihnachtlichen musikalischen Aufführung, und bei den Proben hierzu, gibt es etliche erotische Verwicklungen, die auch mit einem zugereisten Katecheten zu tun haben, der eine Schwäche für schöne Stimmen hat - und somit auch für Eva... Doch ich bin gerade dabei, in eine der oben beschriebenen Fallen zu tappen. ich will das Buch nicht nacherzählen! Belassen wir es bei dieser abschließenden Zusammenfassung: Im letzten, dem dritten Abschnitt des Buches, erlebt der Leser mit, wie etwas in Eva endgültig versteinert, wie etwas abstirbt, zugunsten eines vielleicht etwas elementareren Triebes - ihrer Körperlichkeit. Das ist scheinbar das Einzige, was auch einem Menschen ihrer Art geblieben ist. Das Ende ist - meiner Meinung nach - angenehm offen gestaltet. Man erfährt nur, dass Eva vom Besuch eines fahrenden Wanderzirkus mit menschlichen Absonderlichkeiten fasziniert ist Damit endet das Buch- und hier schließt sich sozusagen der Kreis, denn es begann mit einem Prolog, der "Marktgeschrei" betitelt war - ein Auszug aus eben einer solchen Vorstellung eines Panoptikums missgebildeter oder besonderer Menschen, die vorgeführt werden. Der Leser kann daraus seine eigenen Schlüsse ziehen. Ja, der dritte Abschnitt ist vielleicht der am schwersten zu verdauende des Buches, da es teils hier doch deutlich und drastisch zugeht. Aber immer stilitstisch einwandfrei beschrieben, sprachlich auf hohem bis höchstem Niveau! Was das Unbehagen beim Leser auslöst, ist vor allem die Tatsache, dass hier zum ersten Mal die "ich"-Perspektive von Eva verwendet wird. Man wird also zu der Erkenntnis genötigt, das sei wirklich sie, so fühle sie. Allerdings muss ich hier auch meine einzige Kritik an dem Buch ansiedeln, denn dieser neue Schritt in der Erzählweise wird nicht konsequent durchgehalten. Ich hätte es überzeugender gefunden, wäre es bei diesem "ich" geblieben. Doch nein, wenn es zu schmerzlich oder überwältigend wird, dann wechselt der Autor unvermittelt zurück in das "sie". Oder er lässt Eva eine Episode aus der Bibel nacherzählen, die sie auf sich selbst bezieht - und die natürlich immer mit Haaren zu tun hat. Schade, hier hat der Autor die Möglichkeit verpasst, ein in sich völlig stimmiges Werk zu verfassen. so aber wirkt es, als habe er im letzten Moment die Notbremse gezogen. ich kann verstehen, dass manche Leser durch diesen letzten Abschnitt abgeschreckt wurden. Er fällt durch die Thematik ein wenig aus dem Gesamtbild heraus. Viel Sex, viel Trieb, wenig Menschlichkeit. Das stimmt wohl. Ist das aber nicht gerade die Botschaft, die der Autor uns vermitteln wollte? Es ist beispielsweise eine Tatsache, dass die "Affenfrau" Julia Pastrana von ihrem "Vorführer" missbraucht und vergewaltigt wurde, ja, dass sie sogar eine Tochter bekam. Es gibt leider Gottes Männer, die durch Abweichungen von der Norm erst recht angesprochen und enthemmt werden. Erst recht in der Zeit, zu der die Geschichte spielte - als man noch viel weniger wusste und medizinisch tun konnte. Beeindruckend finde ich aber immer noch, dass Eva inmitten all dieser Wirbel stets versucht hat, ein Ganzes zu bleiben - sie hat auf harte Weise gelernt, ihrer Umwelt das zu bieten, was diese erwartet. Und das dieses Ergebnis nicht schön ist, dafür kann ja Eva nichts. Und insofern besteht auch der Wert des Buches nicht in einer "schönen" Geschichte, sondern in einer deutlichen Moral, in einem Spiegel, der uns vorgehalten wird. Einem polierten, stilistisch ausgefeilten Spiegel - aber eben einem Spiegel. Wenn wir uns darüber entsetzen, dann erschrecken wir letztlich über uns selbst.
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