Bereits am Ende von „Der Beweis“ kehrt Claus in die kleine Stadt zurück. Lucas ist nach dem Tod von Mathias verschwunden und keine der Recherchen die Claus betreibt, kein Ort ihrer gemeinsamen Kindheit, den er aufsucht, keine Person, die er kontaktiert, hilft ihm wirklich weiter. Zweifel an der Historie kommen auf, Lucas/Claus…Claus/Lucas, das Verwirrspiel ist perfekt.
Zu Beginn von „Die dritte Lüge“ erzählt Claus, wie er nach längerer Zeit des Wartens, nach mehreren Verlängerungen seiner Aufenthaltsberechtigung, Krankheit und Trübsal im Gefängnis landet. Dort erinnert er sich an „seine Geschichte“, die nun eine komplett andere Version, der bisher gehörten Erzählung darstellt. Aber der Wunsch, den Bruder endlich wieder zu sehen, bleibt konstant. Als er vor seiner Ausweisung aus dem Land die Chance erhält Lucas anzurufen, wendet sich die Sichtweise erneut und Lucas kommt zum Zug. Die Geschichte, die er erzählt, ist von Sehnsüchten geprägt, Sehnsüchten und Abweisungen. Denn alle Menschen, die sich ihm irgendwann zuwandten, sei es aus Zuneigung oder nur Symphathie, wurden von ihm abgewiesen. Der Wunsch mit der Mutter vereint zu leben beherrscht Lucas total. Als es nach dem Telefonat mit Claus zu einem Treffen kommt, besiegelt Lucas/Claus das Schicksal aller mit einer Enttäuschung, die keiner verschmerzen kann. Alle Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an eine alle erlösende Begegnung, an die Zusammenführung, der ein halbes Leben getrennten (Zwillings-)brüder, sterben in einem Augenblick.
Agota Kristof betreibt ein intrigantes Verwirrspiel mit dem Leser, aber es dient der Veranschaulichung des Schmerzes. Die Protagonisten erleiden durch menschliche Entscheidungen und schicksalhafte Begegnungen, Verluste oder werden auf einen Weg gebracht, den sie selbst nie erwählt hätten, da er ihr Leben letzlich zu zerstören droht. Kristof erzählt von quälender Sehnsucht nach Anerkennung, Aufmerksamkeit und Zuneigung und den grausamen Folgen, die das Ausbleiben der Erfüllung verursacht. Die Protagonisten werden zu einem Symbol für Schmerz. Sie leiden an Gebrechen, die sie immer weiter nach unten ziehen. Sie lehnen helfende Hände ab, zerschneiden rettende Stricke und letztlich prallt alles an ihnen ab, die Entfremdung vollzieht sich schleichend. Am Ende ist die Erlösung nicht die Versöhnung, ein Wiedersehen, eine Umarmung oder ein klärendes Gespräch. Am Ende verstricken sich alle in ihren Lügen und bald ist nicht mehr klar, was oder wer ist/war Realität, was war Lügengebilde, was war Vision oder gar Wahn. Am Ende ist der einzige Ausweg Ruhe, die letzte Ruhe, Ruhe in einem kalten Grab.
Aussagekräftig und eindrucksvoll erzählt. Kafkaesk.