Rezension zu "Die Stunde der Physiker" von Ernst Peter Fischer
Wenn Ernst Peter Fischer eine Stunde vermisst, berücksichtigt er nicht nur die Relativitätstheorien von Albert Einstein, von Werner Heisenberg und Niels Bohr hat er gelernt, „unbestimmt“ und „komplementär“ zu schauen. So wandert sein Blick immer wieder vom Zifferblatt der Physiker zu jenen der Künstler und zurück. Auf seinen Streifzügen durch die Kunst entdeckt er keine schmelzende Uhr eines Salvador Dalí und auch nicht Ernest Hemingways Roman „Wem die Stunde schlägt“, sondern einen Frühromantiker. „Es passiert, was Novalis um 1800 mit seiner blauen Blume der Romantik in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen mit einem phantastischen Bild dargestellt hat, als der junge Dichter den die Welt erwandernden Heinrich ein Bergwerk betreten und somit in das Innere der Erde eindringen lässt, aber nur, um ihn dort auf jemanden treffen zu lassen, der in einem Buch liest, in dem die Geschichte des Eindringlings geschrieben steht. Das romantische Erlebnis, im Innersten der Welt auf das Geheimnis zu treffen, das man selbst ist, beglückte in der modernen Geschichte der Wissenschaft die Physiker, deren abenteuerliche Suche hier Schritt für Schritt erzählt ist.“
Die ersten Sekunden seiner Stunde widmet der Physiker, Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftspublizist einem „Gruppenbild mit Dame“, das auf der Solvay-Konferenz 1927 entstanden ist. „Die Dame auf dem Bild heißt Marie Curie … Sie fällt in der sie umgebenden Männerwelt nicht nur aus dem Rahmen, weil sie eine Frau ist, sondern vor allem deshalb, weil sie zweimal mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde …“
Die anderen 28 Teilnehmer sollen hier nicht alle namentlich genannt werden. Die beiden “Giganten“ Einstein und Bohr sind wichtig, gefolgt von Heisenberg. Erwin Schrödinger ist hier von Bedeutung,Wolfgang Pauli, Paul Dirac, Louis-Victor de Broglie, Max Born und Max Planck.
Letzterer erscheint in Fischers „Zehn Schritte durch die Zeit“ an erster Stelle und zwar als derjenige, welcher die Konstante fand, „mit der die Größe der heute wohlbekannten Quantensprünge festliegt, die Atome vollziehen, um auf diese Weise Licht auszusenden.“
Bald wird die berühmte Einsteinformel mit der Planckschen kombiniert: E = hv = mc² oder m = hv / c². “… so harmlos dieser Block aus Buchstaben aussieht, wenn man ihn physikalisch ernst nimmt und deutet, besagt er, dass zu einer Masse m eine Frequenz v gehört, dass also eine Masse in der realen Welt auch als eine Welle auftreten und sich wie sie bewegen kann. Das hätten Planck und Einstein bereits 1905 wissen und von der mathematischen Ebene auf die physikalische Bühne holen können, aber sie haben es weder gesehen noch getan. Es hat fast zwei weitere Jahrzehnte gedauert, bis der französische Physiker Louis de Broglie in seiner 1924 angefertigten Doktorarbeit auf den physikalischen Zusammenhang gekommen ist und dem Elektron mit seiner Masse auch eine Wellenlänge zugewiesen hat.“
Von der Doppelidentität am Doppelspalt ist es nicht mehr weit bis zu den Matrizen Heisenbergs. Nach der Natukonstanten h gewinnt das imaginäre i an Bedeutung. QP - PQ = ih/2π oder QP - PQ = iħ heißt die Zauberformel jetzt. Physikalischen Analphabeten sei gesagt, dass der Ort q eines Elektrons zur Matrix Q und der Impuls p eines Elektrons zur Matrix P umgedeutet oder umgeformt wurden.
„Von einem In-der-Welt-Sein konnte bei Atomen keine Rede mehr sein, höchstens von einem ‚In-die-Welt-Kommen‘, und zwar durch den Zugriff des Menschen. Tatsächlich überschreiten imaginäre Zahlen die Grenze des Wirklichen. Sie gehören nicht der diesseitigen Welt, dafür aber einer transzendenten (jenseitigen) Sphäre an. Und die Tür zu ihr konnte Heisenberg öffnen, als seine Gedanken im Innersten der Welt angekommen waren, wobei er das, was ihm da begegnete, als Menschenwerk identifizieren konnte.“
Im Taxi in Berlin vertraut Heisenberg dem jungen Carl Friedrich von Weizsäcker an: „Ich glaub’ ich hab das Kausalgesetz von Kant widerlegt.“ Ein paar Seiten später erläutert Heisenberg beziehungsweise Fischer diese Behauptung: „‚An der scharfen Formulierung des Kausalgesetzes: Wenn wir die Gegenwart kennen, können wir die Zukunft berechnen, ist nicht der Nachsatz, sondern die Voraussetzung falsch.‘ Die Gegenwart bleibt unbestimmt.“ Der menschliche Verstand stehe nicht a priori zur Verfügung, sondern die kausale Form des Denkens entstehe „erst mit den alltäglichen Erfahrungen, die Menschen machen, weshalb die berühmte Kategorie a posteriori erworben worden ist und mithin auch durch Denken überwunden werden kann.“
Genau in der Mitte des Buches „Die Stunde der Physiker“ kommt Fischer bei sich selbst an. Er beschreibt, wie sich Max Delbrück einem Hörsaal nähert und dabei einen Wortwechsel zwischen Einstein und Walther Nernst belauscht. „‚Er hat ein Quantenei gelegt‘, hörte Delbrück Einstein antworten, ‚und jetzt wollen wir einmal sehen, ob man es ausbrüten kann.‘ Von diesen Worten hat Delbrück dem Autor dieser Zeilen selbst erzählt, der in den 1970er Jahren seine eigene Doktorarbeit bei Delbrück anfertigen konnte.“
Enorm erleichtert wurde der Brutprozess durch Schrödinger, erfährt der Leser im Folgenden. Der Österreicher ergänzte die Matrizen durch die Gleichung: HΨ = EΨ. Dies entspricht einer Eigenwertgleichung mit dem Hamilton-Operator H, der Wellenfunktion Ψ und dem Energie-Eigenwert E.
„Schrödinger selbst zeigte sich davon überzeugt, dass ihm mit seiner lösungsträchtigen Gleichung die Rückkehr zu anständigen, erfreulichen und klassischen Wegen der Physik gelungen war, in der alles schön regelmäßig und von Naturgesetzen determiniert ablaufen sollte.“ Aber Born interpretierte Ψ² anders als Schrödinger. Er kam „auf den heute weitgehend akzeptierten und einleuchtenden Gedanken, dass Ψ² als Wahrscheinlichkeit dafür zu deuten, ein Elektron an einem gegebenen Ort im Raum seiner Existenz aufzuspüren.“
Die statische Deutung, auch als Kopenhagener Interpretation bekannt, veranlasste Einstein dann zu seinem berühmten Satz, „ jedenfalls bin ich überzeugt, dass der nicht würfelt.“ In der Fortsetzung des Konflikts pflegte er zu sagen, „der Mond ist auch da, wenn keiner hinschaut.“
Fischer versäumt es nicht, die Gedanken René Descartes als Ursache für das Festhalten an der klassischen Physik zu nennen. „Diese Dichotomien schufen die Ausgangslage, in der René Descartes vor mehr als dreihundert Jahren den berühmten Schnitt ausführte, der die Welt aufteilte in den Geist - die res cogitans - und die Materie - die res extensa. Mit seiner Hilfe entstand das Konzept einer äußeren Wirklichkeit, die unabhängig von seinem Beobachter ist.“
Wer von Einsteins Mond spricht, kann Schrödingers Katze nicht unterschlagen. „In der Arbeit mit dem Titel ‚Die gegenwärtige Situation der Quantenphysik‘, in der Schrödinger 1935 seinen Vorschlag einer verschränkten Welt der Atome macht, diskutiert er auch den ‚burlesken Fall‘, bei dem es um eine Katze in einer ‚Höllenmaschine‘ geht … Die Katze steckt in einem Stahlkasten, der mit einer Klappe zur Beobachtung ausgestattet ist. In dem verschlossenen Gehäuse befindet sich eine Quelle mit radioaktivem Material, das im Verlaufe seines zufälligen Zerfalls Energie abstrahlen kann, und wenn dies zu einem unvorhersehbaren Zeitpunkt geschieht, wird dadurch ein Mechanismus ausgelöst, der ein Giftgas freisetzt und die Katze tötet. Niemand weiß, ohne durch die Klappe geschaut zu haben, ob dies passiert ist oder die Katze noch lebt. Schrödinger fragt sich und seine Leser nun, ob in dem Fall, in dem ein Beobachter in dem Kasten ein totes Tier erblickt, die Katze durch dessen Eingreifen umgebracht worden ist.“
Wem dieses Gedankenexperiment die Sprache verschlägt, der hat die Vorläufer dieses Kapitels nicht gründlich gelesen. Fischer berichtet vom Jahr 1932, in welchem die Physiker in Kopenhagen eine Faust-Parodie aufführten und in welchem die Existenz des Neutrons, der Positronen und der Antimaterie nachgewiesen werden konnte. Letztere hatte Dirac mit seiner Gleichung vorhergesagt. Die Möglichkeiten, die die Neutronen eröffneten, lies Einstein zwei verhängnisvolle Briefe an den amerikanischen Präsidenten F. D. Roosevelt schreiben, was schließlich zur Entwicklung der Atombombe durch Robert Oppenheimer führte.
Im letzten Kapitel vor dem Epilog schreibt Fischer: „Der amerikanische Physiker John Archibald Wheeler hat einmal bemerkt, dass die Physik zuerst die Rolle des Beobachters entdeckt habe und dass danach aus der zentralen Rolle des Beobachters die ebenso zentrale Bedeutung der Information hervorgegangen sei, bis sie den Menschen schließlich als physikalische Wirklichkeit begegnete … Die Welt, in der Menschen leben, haben sie geformt.“ Das „It from Bit“, so Wheelers These.
Am Ende fordert der Autor auf, „die Natur vom Ganzen her - aufs Ganze gesehen - zu verstehen."
Dazu müsse „sich die Wissenschaft in ihrem Denken der Kunst nähern. Denn Kunst ist Leidenschaft zum Ganzen, wie es Rilke einmal gesagt hat, während sich Wissenschaft komplementär dazu als Leidenschaft zum Teil charakterisieren lässt.“
Ein ausführlicher Anhang mit einem Literaturverzeichnis, den Kurzbiografien der Protagonisten, einem Glossar, einer Chronik, der Danksagung und einem Bildnachweis runden „Die Stunde der Physiker“ ab.
Was bleibt, ist Ernst Peter Fischer für dieses lehrreiche und unterhaltsame Werk herzlich zu danken.
Vera Seidl