Cover des Buches Montedidio (ISBN: 9783862200313)
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Rezension zu Montedidio von Erri De Luca

Rezension zu "Montedidio: Roman" von Erri De Luca

von HeikeG vor 12 Jahren

Rezension

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HeikeGvor 12 Jahren
Flügel aus Holz . Herrscher der Lüfte - das wollten die Menschen immer gern sein. Wie ein Vogel fliegen, die Welt von oben sehen, schnell und bequem in ferne Länder reisen. Diesen alten Traum können wir uns heute leicht erfüllen. Doch das war nicht immer so. Und schon gar nicht bei einem 13-jährigen neapolitanischen Jungen aus bescheidenen Verhältnissen Anfang der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Doch jener entfliegt über den Dächern Neapels imaginär dem Kokon der eigenen Kindheit und dem Armeleuteviertel aus kleinen Gassen, das Montedidio heißt und in dem man kaum einen freien Fleck zwischen den Füßen findet, wenn man "auf die Erde spucken will". In den Händen hält der Protagonist einen Bumerang, den er von seinem Vater, einem Hafenarbeiter, bekommen hat und dessen Wurf er jeden Abend übt. Ein merkwürdiges Ding zwischen Spielzeug, Arbeitsgerät und Waffe, das zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte wird. "Eines Abends wir der Arm stark sein, und ich werde ihn nicht zurückhalten können, und dann wird der Bumerang fliegen." . Doch bis es so weit sein wird, beobachtet der Junge nicht nur das neue Leben als Tischlergeselle und seinen wachsenden Körper mit respektvoller Neugier, sondern auch die italienische Sprache. Seine Muttersprache ist der neapolitanische Dialekt. "Ich verstehe Italienisch, weil ich die Bücher aus der Bibliothek lese, aber ich spreche es nicht. Ich schreibe auf Italienisch, weil es still ist und ich die Ereignisse des Tages darin aufbewahren kann, wo sie sich vom Lärm des Neapolitanischen ausruhen." Auf einer alten Druckerrolle "fasst [er] den Lärm des Tages zusammen", notiert seine Erlebnisse und Gedanken. Diese handeln zum Beispiel von seinem Meister Errico. Auch von seinem Vater, der immer mehr aus seinem Gesichtskreis verschwindet, da er sich um die schwerkranke Mutter kümmert. Dafür streifen Geister in der leeren Küche umher und über sein Gesicht. Von Don Raffaniello berichtet er, dem buckligen Schuster, der in der Werkstatt Erricos die Schuhe der Ärmsten repariert. Dessen Geschichten stimmen ihn fröhlich, "pusten Luft in die Knochen, die Fröhlichkeit eines Segelfliegers." Der Buckel, so erzählt ihm der alte Jude, den die Flucht aus Nordeuropa in Neapel hat stranden lassen, enthält ein Paar Flügel, die nur darauf warten, dass er sie entfaltet, damit er mit ihnen nach Jerusalem fliegen kann. Und dann ist da noch Maria, im gleichen Alter wie der Ich-Erzähler. "Aber ihre dreizehn Jahre sind erwachsener als meine." Mit ihr lernt er auf andere Art zu fliegen, indem sie ihn in die Geheimnisse von "amore" einweist. Sie versucht er vor dem aufdringlichen Hausbesitzer, der das Mädchen lange Zeit als "Mietrabatt" benutzte, zu beschützen. . "Im Frühling war ich noch ein Kind, und jetzt stecke ich mitten in ernsten Dingen, die ich nicht verstehe.", sinniert der Ich-Erzähler. Ein leises, ein stilles, ein trauriges und zugleich fröhliches, ein nachdenklich stimmendes Büchlein über den zuweilen recht verworrenen und verwirrenden Weg aus der Kindheit heraus und hinein ins Erwachsenwerden hat Erri de Luca geschrieben. Ein Buch mit kleinen, aber sinnesstarken Sequenzen und Abschnitten. Stilistisch ganz im Ton des erzählenden 13-Jährigen gehalten, mit kurzen, glasklaren Sätzen von zuweilen berührender Einfachheit. Alles balanciert zwischen Tag und Traum, Märchen und kruder Realität. Damit erzeugt de Luca, der als einer der wichtigsten und erfolgreichsten italienischen Autoren der letzten Jahre gilt, eine fast magisch zu nennende Stimmung. Liebevoll gezeichnete Figuren und poetische Passagen zaubern trotz des ernsten Hintergrundes immer wieder ein Lächeln auf die Lippen des Lesers. Gelegentlich eingestreute Sätze in Neapolitanisch zeugen zudem von der Liebe zu seinem Mutterdialekt. "Italienisch ist eine Sprache ohne Spucke, das Neapolitanische dagegen hat den Mund immer voll Spucke und macht, dass die Wörter gut kleben.", lässt er Rafaniello erzählen, der diese Sprache mit seiner eigenen, dem Jiddischen, vergleicht. . Letztendlich strebt in "Montedidio" alles auf einen kumulierenden Höhepunkt zu. Zum Jahreswechsel, Punkt Mitternacht, wird der Traum vom Fliegen für einige Figuren tatsächlich wahr.
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