Die britische Schriftstellerin Esther Freud ist mir durch ihren Debütroman, Marrakesch, bekannt, den ich brillant finde. Mit ihrem neuesten Werk, Mein Jahr mit Mr Mac, hat sie meines Erachtens ihr bisher bestes Buch geschrieben, denn sowohl die Story als auch die Protagonisten sind meisterhaft gelungen. Die Geschichte spielt im englischen Küstenort Walberswick/Suffolk im Jahre 1914. Erzähler und ungewöhnlicher Held des Romans ist der 13-jährige Thomas, jüngster Sohn des Wirtes William Maggs und seiner Frau Mary. Während seine Schwester Mary als Dienstmädchen arbeitet und seine andere Schwester Ann ihrer Mutter im elterlichen Pub Blue Anchor hilft, besucht Thomas, der einen verkrüppelten Fuß hat, die Schule, denn er soll es einmal besser haben. Die Familie lebt in ständiger Armut, weil ihr Pub nicht viel abwirft. Dies ist primär dem immensen Alkoholkonsum seines jähzornigen Vaters geschuldet, der im volltrunkenen Zustand Thomas und seine Mutter des Öfteren schlägt. Thomas leidet sehr darunter, seine Mutter nicht beschützen zu können, denn er ist seinem Vater körperlich in keiner Weise gewachsen. Er unterdrückt seine wachsende Wut auf ihn und sucht sich einen Nebenjob bei George Allard, dem Seiler des Dorfes, um seiner Mutter etwas zusätzliches Geld zustecken zu können.
Thomas Maggs: Meeresbegeisterter Wirtssohn mit einem ganz besonderen Talent
Thomas liebt das Meer – sehr zum Missfallen seiner Eltern – und verbringt sehr viel Zeit am Strand. Sein Vater meidet es geradezu panisch, seine Mutter möchte unbedingt verhindern, dass er zur See fährt, obwohl das ja aufgrund seines verkrüppelten Fusses praktisch unmöglich ist. Doch Thomas träumt davon, sein Zuhause zu verlassen und die Welt zu erkunden, seit er Stevensons Die Schatzinsel gelesen hat. Aber er begnügt sich zunächst damit, seine heißgeliebten Schiffe zu zeichnen – und er hat großes Talent. Das ist insbesondere seinem strengen Lehrer, Mr. Runnicles, ein Dorn im Auge, der alles versucht, um es zu unterbinden, aber Thomas lässt sich von nichts und niemandem davon abbringen und zeichnet in jeder freien Minute, obwohl keiner sein Hobby auch nur ansatzweise ernst nimmt.
Mr. Mac: Ein Künstler in seinem Element
Und so plätschert Thomas‘ Leben unaufgeregt dahin, bis eines Tages der schottische Künstler Charles Rennie Mackintosh und seine Frau Margret, ebenfalls Künstlerin, ein Haus am Meer mieten. Der pfeifenrauchende Fremde mit dem schwarzen Capé und dem Fernglas wird auf seinen langen Spaziergängen von den Dorfbewohnern misstrauisch beäugt, doch Thomas ist fasziniert von Mr. Mac, wie er ihn nennt, denn er ist so ganz anders als die Menschen, die er kennt. Und die Sympathie beruht auf Gegenseitigkeit: Mr. und Mrs. Mac laden Thomas des Öfteren zu sich ein, und es eröffnet sich ihm eine völlig neue Welt: Begeistert erkundet er das Haus voller „fremdartiger“ Bücher über Architektur und Design und ist sowohl von Mr. Macs Aquarellen als auch von Mrs. Macs neuartigen Gesso (Gips)-Panelen völlig begeistert. Mr. Mac erkennt das Talent des Jungen und ermuntert ihn, weiter zu malen und zu zeichnen. Als er ihm einen Farbkasten schenkt, könnte Thomas nicht glücklicher sein.
Unter Verdacht
Doch als der 1. Weltkrieg ausbricht, verändert sich alles. Soldaten beziehen überall Quartier, und die Angst vor Spionen greift auch in dem kleinen Küstenort um sich. Schon bald gerät auch Mr. Mac ins Visier der Dörfler, denn er, der Fremde, war ja schon immer äußerst merkwürdig. Er kann nur ein Spion sein – warum sonst hat er bei seinen ominösen Spaziergängen stets ein Fernglas bei sich? Man beschließt, den Constable zu informieren, der Mr. Macs Verhaftung in die Wege leiten soll. Doch noch bevor Thomas Mr. Mac warnen kann, geschieht etwas Schreckliches, das ihn tief erschüttert und beinahe über Nacht erwachsen werden lässt…
Ein bemerkenswerter Roman über Freundschaft und Kunst
Schon nach den ersten Seiten hat mich dieser eindrucksvolle Roman gefangen genommen. Dies liegt vor allem an dem Protagonisten des Romans, Thomas Maggs, den Esther Freud so wunderbar erdacht hat. Aus der naiven und doch manchmal schon so erwachsenen Sicht dieses 13-jährigen Jungen betrachten wir die Welt – seine Welt – , in der es für Menschen mit „Klumpfuß“ zur damaligen Zeit nicht viele Zukunftsmöglichkeiten gibt. Doch Thomas lässt sich davon nicht unterkriegen und träumt nach wie vor von einem selbstbestimmten Leben.
Der zweite Protagonist, Charles Rennie Macintosh, der berühmte schottische Architekt und Designer, den die Autorin mit ihrer Geschichte wieder zum Leben erweckt, ist ebenfalls sehr gelungen. Mit Mr. Mac trifft Thomas endlich einen ihm sehr ähnlichen Freigeist, der – wie er – eine Gehbehinderung hat, was ihn jedoch nicht davon abhält, äußerst kreativ und produktiv zu sein. Für Thomas ist Mr. Mac Vater, Freund und Lehrer in einem. Und auch Mr. Mac blüht durch Thomas‘ künstlerische Fortschritte auf, selbst als sein eigener Schöpfergeist für eine kurze Weile stagniert.
Die Interaktion der beiden unterschiedlichen und doch so ähnlichen Charaktere macht das Buch einzigartig. Aber auch die Nebenfiguren sind exzellent gezeichnet und setzen die Geschichte in einen glaubwürdigen und stimmigen Kontext. Der Roman berührt nicht nur durch seine ausgefallene Geschichte, sondern vor allem durch seine Protagonisten, die ans Herz wachsen und die am Ende des Buches so vertraut geworden sind, dass man sich nur schwer wieder von ihnen trennen kann. Mein Fazit: Ein außergewöhnliches Leseabenteuer – sehr empfehlenswert!