Rezension zu "Das denkende Herz der Baracke" von Etty Hillesum
Die Tagebücher der am 30. November 1943 in Auschwitz ermordeten niederländisch-jüdischen Lehrerin Etty Hillesum haben seit ihrer ersten Veröffentlichung viele Generationen von Menschen bewegt und geprägt. Sie sind ein bewegendes Dokument der Menschlichkeit, das heute Menschen überall auf der Welt immer noch beeinflusst.
Obwohl ihr immer klar war, was sie in Auschwitz erwarten wird, verliert Etty Hillesum nicht ihr Vertrauen in das Gute in jedem Menschen und ihr Vertrauen in Gott und seine unerschöpfliche Liebe.
Ich selbst hatte Mitte der siebziger Jahre gerade mit dem Theologiestudium begonnen, als ich zum ersten Mal mit den Tagebüchern von Etty Hillesum in Kontakt kam. Eine Stelle darin, in der sie mit Gott spricht, hat mich damals fast von den Füßen gerissen und seitdem nicht nur meinen Glauben, sondern auch meine theologische Praxis stark geprägt:
„Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute Nacht geschah es zum ersten Mal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorbeizogen. Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst auch du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben. Ich fordere keine Rechenschaft von dir, du wirst uns später zur Rechenschaft ziehen. Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen. Es gibt Leute, es gibt sie tatsächlich, die im letzten Augenblick ihre Staubsauger und ihr silbernes Besteck in Sicherheit bringen, statt dich zu bewahren, mein Gott. Und es gibt Menschen, die nur ihren Körper retten wollen, der ja doch nichts anderes mehr ist als eine Behausung für tausend Ängste und Verbitterung. Und sie sagen: Mich sollen sie nicht in ihre Klauen bekommen. Und sie vergessen, dass man in niemandes Klauen ist, wenn man in deinen Armen ist. Ich werde allmählich wieder ruhiger, mein Gott, durch dieses Gespräch mit dir. Ich werde in der nächsten Zukunft noch sehr viele Gespräche mit dir führen und dich auf diese Weise hindern, mich zu verlassen. Du wirst wohl auch karge Zeiten in mir erleben, mein Gott, in denen mein Glaube dich nicht so kräftig nährt, aber glaube mir, ich werde weiter für dich wirken und dir treu bleiben und dich nicht aus meinem Inneren verjagen.“
Es gibt nur wenige Stücke Prosa, die mich in meinem Glauben so erschüttert und geprägt haben wie dieses. Es ist gut, dass der Herder-Verlag dieses Buch in einer ansprechenden Neuauflage wieder zugänglich macht.