Rezension zu "Bleibefreiheit" von Eva von Redecker
Freiheit ist ein Begriff, den wir oft mit Bewegungsfreiheit gleichsetzen: Freiheit als räumliche Möglichkeit, Dinge zu tun. Doch es gibt auch eine zeitliche Freiheit, meint Eva von Redecker: "Bleibefreiheit". In ihrem gleichnamigen Essay spürt sie dieser Form der Freiheit nach.
Freiheit in ihrer räumlich-materiellen, auf Besitz abzielenden Bedeutung bringt Schwierigkeiten mit sich. Sie zentriert das Individuum und dessen Recht auf Eigentum, die Möglichkeit, Dinge zu tun und zu lassen. Diese Form der Freiheit kann allerdings gar nicht von allen erreicht werden - weil Ressourcen nun mal endlich sind. Außerdem fehlt die Zukunftsperspektive, da die Freiheit auf materielle Verfügung beschränkt bleibt. Die Vorstellung ist daher auch eng mit der dem Kapitalismus inhärenten Akkumulationslogik verbunden, da über die Anhäufung von Besitz eine gewisse Zukunftssicherheit erreichbar scheint. Doch diese Freiheit macht auch unfrei, weil sie Abhängigkeiten schafft - Abhängigkeiten in materieller wie hierarchischer Hinsicht.
Was würde aber passiert, wenn man diese Zukunftskomponente anders mit dem Freiheitsbegriff verbindet? Lässt sich Freiheit zeitlich verstehen und was gewinnen wir dadurch? Die Freiheit, bleiben zu können, statt einen Ort (wegen Krieg oder Klimawandel) verlassen zu müssen. Die Freiheit, über meine zwingendermaßen endliche Zeit zu entscheiden, auch und gerade, wenn das zugunsten eines Zuhause-Bleibens ausfällt. Eva von Redecker zeigt: Es gibt viel zu gewinnen, wenn man der Diagnose eines stetigen Zeitverlusts ein "jetzt erst recht!" für demokratische und zwischenmenschliche Prozesse entgegenstellt - und wenn man begreift, dass Freiheit nicht nur individuell und räumlich zu denken ist. Gerade die zeitliche Perspektive kann gemeinsame Räume öffnen: "Wenn in der Bleibefreiheit eine Idee der Liebe steckt, dann die, dass man Zeit teilt, ohne sie zu verlieren." (S. 91)
Im Gegensatz zur räumlichen Vorstellung fußt sie nicht auf endlichen, starren Voraussetzungen und rückt das Prozesshafte ins Zentrum. Eva von Redeckers Fokus liegt auf der stetigen Möglichkeit des Neubeginns, Hannah Arendts "Natalität", die sie mit anarchistischen und feministischen Überlegungen zu zwischenmenschlichen Beziehungen und der Gestaltung von Zukunft verbindet. Für diese Form der Freiheit muss die Zukunft potentiell offen und damit gestaltbar bleiben. Aus dieser Perspektive werden Handlungsräume auch in scheinbar aussichtslosen Situatione deutlich, denn eine Absage ist all den pessimistisch- apokalyptischen Weltuntergangsszenarien zu erteilen, die zu schnell in einem "wir können es ja eh nicht mehr ändern" münden.
Im Kern geht es also darum, uns die Macht über unsere Zeit zurückzuholen – und zwar nicht nur individuell, sondern auch gesamtgesellschaftlich. Dies ist kein Versuch, den Wert von Bewegungsfreiheit zu leugnen. Das wäre auch absurd angesichts armutsbedingter Mobilitätseinschränkung und emanzipatorischer Siege der letzten Jahrhunderte. Sondern es geht um die Erkenntnis, dass ebenso, wie Bewegung unfreiwillig geschehen, das Bleiben auch eine freiwillige Komponente beinhalten kann – und dass die Zeitlichkeitsperspektive Freiheit schafft, während unsere gängigen Freiheitsvorstellungen die Tendenz zur Unfreiheit in sich tragen.
Durch die Verbindung persönlicher Anekdoten mit der Bereitschaft, auch noch nicht zu Ende gedachte, potentiell offene Überlegungen zu formulieren und zur Diskussion zu stellen, ist ein Essayband entstanden, der zum Nachdenken anregt, Optimismus weckt und scheinbar Selbstverständliches hinterfragt. Wie schon in „Revolution für das Leben“ verbindet die Autorin politiktheoretische Kritik mit Perspektivwechseln und bietet keine abgeschlossene, starre „Gegentheorie“, sondern – ganz im Sinn des Projekts – einen offenen Denkraum. Das alles ist bereichernd und macht Mut, gesellschaftliche Entwicklungen nicht als alternativlos, sondern veränderbar wahrzunehmen.