Evelyne Lever (geb. 1944) gehört zu den bekanntesten französischen Historikerinnen und Historikern der letzten Jahrzehnte. Sie ist eine Expertin für die Geschichte des französischen Königshauses im 18. Jahrhundert. Seit den 1980er Jahren hat Lever zahlreiche Biographien und Quelleneditionen (Briefe, Memoiren) veröffentlicht. Auch in Deutschland ist Lever einem breiten Leserkreis bekannt. Ihre Bücher über Ludwig XVI., Marie-Antoinette und Madame de Pompadour liegen in deutscher Übersetzung vor. Die Biographie Ludwigs XVI. erschien 1985 bei Fayard. Im Vorfeld des Revolutionsjubiläums von 1989 brachte der Verlag Klett-Cotta das Buch als Teil der Reihe "Biographien zur Französischen Revolution" auf Deutsch heraus. Allerdings hat der Verlag das Buch für die deutsche Ausgabe um etwa ein Fünftel gekürzt. Weggelassen wurden nicht nur längere Blockzitate aus Quellen, sondern auch ganze Absätze des Textes. Es ist empörend, dass sich nirgendwo im Buch ein Hinweis auf diese massiven Kürzungen findet. Seit 1985 hat der Verlag Fayard die Biographie regelmäßig neu aufgelegt. Es handelt sich, wie betont werden muss, um bloße Nachdrucke ohne inhaltliche Überarbeitungen. Der Verlag brachte 2014 auch eine Taschenbuchausgabe in der hauseigenen Reihe Pluriel heraus. Der Rezension liegt ein Exemplar dieser Taschenbuchausgabe zugrunde.
Die Angabe nouvelle édition auf dem Cover ist irreführend, ein veritabler Etikettenschwindel. Wie ein Kenner des Buches ohne Mühe feststellen kann, hat Lever kein neues Material eingearbeitet. Sie hat an manchen Stellen Formulierungen verändert und kleinere Streichungen vorgenommen, hier ein ganzer Satz, dort nur ein Halbsatz. Außerdem hat sie die 22 Kapitel in Abschnitte aufgeteilt und Zwischenüberschriften eingefügt. Einerseits kann man von Autoren nicht erwarten, dass sie ihre Bücher Jahrzehnte nach der Entstehung grundlegend überarbeiten. Doch andererseits ist es problematisch, wenn ein Buch fast 30 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung in unveränderter Gestalt neu aufgelegt wird. Lever und der Verlag haben es nicht einmal für nötig gehalten, die Bibliographie zu ergänzen und zu aktualisieren. Das ist vollkommen inakzeptabel. Das Literaturverzeichnis spiegelt den Forschungsstand der frühen 1980er Jahre wider. In jüngerer Zeit sind etliche wichtige Bücher über Ludwig XVI. und Marie-Antoinette erschienen. Jeder, der sich für die Spätphase des Ancien Régime und die Revolution interessiert, sollte diese Werke zur Kenntnis nehmen:
+ Félix, Joël: Louis XVI et Marie-Antoinette. Un couple en politique (2006).
+ Hardman, John: French Politics 1774-1789 (1995).
+ Hardman, John: The Life of Louis XVI (2016).
+ Hardman, John: Marie-Antoinette. The Making of a French Queen (2019).
+ Petitfils, Jean-Christian: Louis XVI (2005).
+ Price, Munro: The Fall of the French Monarchy. Louis XVI, Marie Antoinette and the baron de Breteuil (2002).
Die mehrfach preisgekrönte Biographie von Petitfils verdient trotz ihres monumentalen Umfanges den Vorzug vor Levers Werk, allein schon deshalb, weil sie mit einem ordentlichen Anmerkungsapparat ausgestattet ist. Da bei Lever Fuß- oder Endnoten fehlen, kommt das Buch für die Nutzung im Rahmen wissenschaftlicher Arbeit nicht in Betracht.
Lever ist eine Historikerin und Autorin mit Stärken und Schwächen. Das weiß jeder, der mit ihren Werken vertraut ist. Auf der einen Seite beeindruckt Lever mit profunder Kenntnis der Sekundärliteratur und des edierten Quellenmaterials aus dem 18. Jahrhundert. Für einige Werke, etwa die Marie-Antoinette-Biographie, hat Lever in größerem Umfang Archivrecherchen durchgeführt. Auf der anderen Seite weisen Levers Bücher gravierende formale Mängel auf, die man bei einer professionellen Historikerin nicht erwartet. Lever verzichtet grundsätzlich auf Vorworte und Einleitungen. Sie formuliert keine Fragen und stellt keine Thesen auf. Sie setzt sich nicht mit dem Forschungsstand auseinander, und sie erörtert die Quellenlage nicht. Lever ist stark in der Erzählung, aber schwach in der Analyse. Die Biographie Ludwigs XVI. ist ein anschauliches Beispiel für dieses eigentümliche Spannungsverhältnis zwischen Vorzügen und Mängeln. Ein zweites Ärgernis ist die ärmliche Ausstattung des Buches. Es fehlen Abbildungen, Landkarten und Stammtafeln. Irritierend ist ferner der häufige Wechsel vom Präteritum ins historische Präsens, der keinem erkennbaren Prinzip folgt.
Nach einem kurzen Prolog über den Tod Ludwigs XV. im Mai 1774 beginnt Lever ihre Erzählung, die dem klassischen Muster "von der Wiege bis zur Bahre" folgt, im Falle Ludwigs XVI. bis zum Schafott. Eine Zusammenfassung, ein Schlusskapitel sucht der Leser vergebens. Lever steht dem König kritisch gegenüber. Sie streicht Ludwigs Schwächen heraus: Der Monarch trat unbeholfen und linkisch auf; es fehlte ihm an Würde und Charisma. Im Umgang mit anderen Menschen war er unsicher und gehemmt. Es gebrach Ludwig an Führungsstärke, Standfestigkeit und Durchhaltevermögen. Seine Minister intrigierten unaufhörlich gegeneinander, und mehrfach ließ Ludwig unter dem Druck seiner Umgebung redliche und verdiente Ratgeber und Mitstreiter fallen. Der König tat sich schwer, Entscheidungen zu treffen. Er war zu Reformen bereit, knickte aber ein, sobald sich konservative Kräfte zum Widerstand gegen seine Pläne formierten. Als sich die Krise der Monarchie Ende der 1780er Jahre zuspitzte, wirkte Ludwig XVI. zunehmend ratlos und überfordert. Bald nach Beginn der Revolution wurde er zu einer politischen Nebenfigur. Das revolutionäre Geschehen ging weit über die – für sich genommen gut durchdachten – Reformpläne des Monarchen hinaus. Lever bezweifelt, dass Ludwig begriff, was ab Sommer 1789 in Frankreich vor sich ging. Er verstand die Welt nicht mehr.
Es fehlt der Biographie an Kontextualisierung. Levers Fokus ist auf Versailles und Paris, die Königsfamilie, den Hofstaat und die Ministerriege verengt. Es entsteht kein plastisches Bild von der Gärung, in der sich Frankreich in den 1780er Jahren befand. Nirgendwo erläutert Lever die sozioökonomischen Veränderungen, die Frankreich seit dem Tod Ludwigs XIV. im Jahr 1715 erlebt hatte. Für das Land, über das Ludwig XVI. herrschte, interessiert sich Lever überhaupt nicht. Daher wird das zentrale Problem nicht deutlich, das zur Revolution führte: Die Gesellschaft hatte sich im Laufe des Jahrhunderts weiterentwickelt, während die absolute Monarchie erstarrt, verkrustet und unzeitgemäß wirkte. Ludwig XVI. erkannte zwar, dass Reformbedarf bestand, aber er wollte Reformen durchführen, ohne das überkommene politische System und die Ständeordnung anzutasten. Lever, die zu viel erzählt und zu wenig analysiert, arbeitet nicht heraus, warum Ludwig XVI. scheiterte, und sie verzichtet auf eine abschließende kritische Würdigung Ludwigs als Mensch und Monarch. Das mindert den Wert ihres Buches erheblich. Levers Kollege Jean-Christian Petitfils kontextualisiert Leben und Herrschaft Ludwigs XVI. in vorbildlicher Weise. Im Vergleich mit seinem Werk zieht Levers Buch in jeglicher Hinsicht den Kürzeren.
Aufgrund ihres Alters und der genannten Mängel verdient Evelyne Levers Biographie Ludwigs XVI. keine Leseempfehlung. Der Verlag Fayard sollte das Buch endlich aus dem Programm nehmen und durch eine neue Biographie des Königs ersetzen, die sich auf der Höhe des heutigen Forschungsstandes bewegt. Das gilt auch für die vielen anderen Biographien französischer Herrscher, die Fayard in den 1970er und 1980er herausgebracht hat und seit Jahrzehnten unverdrossen ohne Überarbeitungen und Aktualisierungen nachdruckt.