Rezension zu "Heute ist mein letzter Tag lebendig (hoffentlich)" von Félix Francisco Casanova
letusreadsomebooksBernardo ist erst fünfundzwanzig und doch schon des Lebens überdrüssig. Mehrmals versuchte er bisher, sich umzubringen, doch jeder Versuch scheiterte. Er kann einfach nicht sterben. So kämpft er sich weiter durch die Tage, erträgt eine nervtötende Verlobte und beginnt, das Lebenswerk des schwerkranken Literaten David niederzuschreiben. Doch immer mehr verliert Bernardo den Bezug zur Realität und den Verstand – die Todessehnsucht wird so groß, dass er zu ungeahnten Mitteln greift.
"Es geht mir wirklich besser. Am Fenster verwischen Kommazeichen aus Wasser die Landschaft. Vielleicht sind es auch meine Augen, die diesen Regenvorhang um mich ziehen. Ich glaube, ich lächle, wie glücklich Sterbende es tun. Aber auch dieses Mal bringe ich meinen Tod nicht zu Ende. Ich erreiche den Gipfel des Grotesken."
Félix Francisco Casanova schrieb neben Gedichten diesen einen Roman im Alter von neunzehn Jahren – weniger als ein Jahr später, 1976, starb er unter ungeklärten Umständen, vermutet wurde ein Gasaustritt. Dass ein so junger Autor nur kurz vor seinem Tod über einen Unsterblichen schreibt, der sich nichts sehnlicher wünscht als den Tod, scheint wie eine Laune des Schicksals. In nur 44 Tagen verfasste er dieses Buch, und das merkt man auch. Es ist hitzig, es ist fiebrig und seine wunderschöne Prosa wirkt geradezu hypnotisch.
Casanovas Roman beginnt zunächst verwirrend. Der Leser wird im Dunkeln gelassen, was Bernardos Ausbildung, Arbeit, Familie und Freunde angeht. Die einzigen Informationen, die er erhält, sind diejenigen, die für den erzählten Moment von Bedeutung sind. So stehen vor allem Bernardos Selbstmordversuche sowie die Dreiecksbeziehung zwischen ihm, Marta und dem Schriftsteller David im Vordergrund. Begleitet wird Bernardos Alltag von wirren Träumen, Halluzinationen oder Gedanken, so ganz klar wird anfänglich nicht, wo die Realität beginnt und aufhört. Einige Passagen klingen unheimlich schön, sind allerdings schwer zu entziffern – auf mich haben sie eine große Faszination ausgeübt, ohne dass ich behaupten könnte, sie wirklich verstanden zu haben.
"Die Stille, ein Gemisch aus Angst und Einsamkeit, ist am schwierigsten zu vergessen, trotzdem habe ich keinen Respekt vor ihr und ich schreie verzweifelt, Gewinsel eines scheußlichen Untiers, ein gezähmter Drache, der vor seinem eigenen Atem davonläuft."
Je weiter der nur 150 Seiten kurze Roman voranschreitet, desto mehr schleicht sich der Verdacht ein, dass das Unverständnis gar nicht mein Fehler, sondern vom Autor so beabsichtigt ist. Viele Beschreibungen und Geschehnisse wirken rauschhaft, (alp)traumhaft. Das Groteske, das Bernardo schon im allerersten Absatz des Buchs nennt, zieht sich durch die gesamte Geschichte: es gibt Tiermasken und ein großes Feuer, Engel und der Teufel höchstpersönlich tauchen auf, Morde werden einfach so nebenbei begangen.
Haben wir es hier mit magischem Realismus zu tun? Ist Bernardo wirklich unsterblich? Oder ist er einfach ein extrem unzuverlässiger Erzähler, der immer weiter in den Wahnsinn abdriftet? Diese Interpretation bleibt wohl jedem Leser selbst überlassen. Fakt ist allerdings, dass das Buch zum Ende hin deutlich temporeicher wird und mit immer mehr Wendungen auftrumpft. Nach dem allerletzten Satz bin ich immer noch verwirrt, aber auf eine positive Weise: das war ein wilder Ritt. Verrückt, düster aber auch stellenweise humorvoll offenbart Casanova die menschlichen Abgründe.
Félix Francisco Casanova hätte einer der ganz großen spanischsprachigen Literaten werden können. Dass sein Erstling Heute ist mein letzter Tag lebendig (hoffentlich) auch sein einziger Roman bleibt, ist schade – denn die opulente Sprache, die rasanten Wendungen, die düsteren Bilder und diese Fiebrigkeit und Dringlichkeit, mit der der Roman verfasst wurde, offenbaren ein großartiges, junges Talent.