Kategorie: Psychogramm | Literarische Tragödie | Parabel | Roman
[Mehr als 5x gelesen]
Besonderheit: Das Buch funktioniert auf vielen Ebenen gleichzeitig sehr gut und je nachdem, mit welchem Blickwinkel man es liest, ändern sich Handlungsschwerpunkte und Aussagen.
Worum dreht sich die Handlung?: Nick Carraway, Nachkomme einer stolzen Familie aus dem mittleren Westen der 1920er und trotzdem irgendwie ein verlorener Niemand, will an der Börse in New York, wie so viele andere junge Männer seiner Zeit, das große Glück machen. Er lebt zurückhaltend und bescheiden und beobachtet von Ferne seinen seltsamen Nachbarn Mr. Gatsby, der auf seinem großzügigen Anwesen rauschende Partys gibt und trotzdem manchmal allein und mit merkwürdigem Gebaren auf dem Steg hinter seinem Haus steht. Um Gatsby, einen schillernden sozialen Blitzaufsteiger und seinen unerhörten, ja unverschämten Reichtum ranken sich zahlreiche Gerüchte, aber keiner scheint wirklich zu wissen, wer er ist und wo er herkommt. Als Nick eines Tages eine offizielle Einladung zu Gatsbys Partys bekommt, scheint er dem Mysterium ein Stück näher zu sein. Doch nicht nur persönliche Sympathie lässt Gatsby den Kontakt zu Nick suchen… Gatsby teilt ein wichtiges Stück seiner Vergangenheit mit Nicks Cousine Daisy, die mit ihrem Mann Tom auf der anderen Seite der Bucht lebt. Nick soll sie wieder bekannt machen. Doch die scheinbar harmlose Anfrage entwickelt sich schnell zu einer spannungsgeladenen Tragödie… über allem schwebt die Frage: Wer ist Mr. Gatsby? Welche Existenzen und Wünsche sind echt, welche trügerisch? Wem kann man im Leben vertrauen? Kann man seine Vergangenheit verstoßen – oder gar zurückholen?
Große Themen im Hintergrund: Illusionen| Vergangenheitsverhaftung | Sehnsucht | American dream und seine Schattenseiten | Stolz und Ansehen | Vertrauen und Verrat | Suche nach dem Glück
Persönliche Notiz: Eins meiner absoluten Lieblingsbücher. Ich habe es in der zweisprachigen Ausgabe von Anaconda und bin inzwischen so weit, dass ich es nicht mehr am Stück lese, sondern einzelne Passagen, auf die ich gerade Lust habe. Einzelne Sätze aus diesem Buch sind so ausdrucksstark, dass ich sie wohl kaum wieder vergessen werde.
Teilbewertung (Legende *= hat mich nicht überzeugt, **= ausbaufähig, ***=solide/gut zu lesen, ****= sehr gut/klare Empfehlung, *****= exzellent/schwer zu erreichen):
- Handlung ****
Die Handlung entspinnt sich auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Jeder Handlungsstrang ist dabei gekonnt ausgearbeitet. Die Handlung hat ein langsames Tempo, entfaltet dabei aber subtil ihre Bedeutung für die Subebene. Trotzdem passiert viel, man wird durch die schillernde Welt des 1920er-New-Yorks geschleift und weiß so wie Nick oft gar nicht mehr, wo einem der Kopf steht. Die meisten Konflikte und unausgesprochenen Fragen lösen sich erst sehr spät auf. Immer wieder sind die turbulenten Szenen unterbrochen von traurigen, nachdenklichen, fast abstrakt wirkenden Einschüben, die über im Hintergrund gesagtes indirekt reflektieren.
- Aufbau *****
Oft werden durch den Aufbau krasse Kontraste erzeugt: Man sieht Gewinner neben Verlierern, Wahnhafte Gefühle neben vernunftgesteuerten Beziehungen, Arm neben Reich und ignorante Feierstimmung neben schwermütigen Philosophen. Die ganze Zeit hat man latent das Gefühl, dass der schöne Schein trügt, selbst, als es zwischendrin mal harmonisch zu sein scheint. Die Handlungs- und Stimmungsführung ist sauber und stimmig, die Phasen gut proportioniert.
- Charakterzeichnung *****
Die Charaktere sind eins der Herzstücke des Buches. Hierbei muss man oft (wenn auch nicht immer) zwischen den Zeilen lesen. Der unvoreingenommene Nick hält sich grundsätzlich mit seinem Urteil zurück, weshalb sich ihm die Leute öffnen und man die Möglichkeit bekommt, tief hinter die Fassade der Charaktere zu blicken. Nick selbst macht langsam, aber sicher eine deutliche Wandlung durch, wirkt immer wieder wie deplatziert zwischen den anderen Charakteren und reflektiert und hinterfragt, was passiert, ohne dem Leser /der Leserin dabei eine Interpretation aufzudrängen.
Die Charaktere wirken zumeist verloren, wie die Reste des glorreichen Traums, den sie früher von sich selbst hatten und den sie trotzdem weiterspielen – bis zum bitteren Ende. Illusion und Schein im Gegensatz zur wahren Situation werden hier fein und gnadenlos gezeichnet. Das macht die Interaktion der Charaktere zu einem interessanten Spannungsfeld.
- Sprache und Stil *****
Die Sprache ist eine angenehme, intelligente Erzählsprache, die genau beobachtet und dabei Freiräume zur Interpretation lässt. Oft wird sie zwischendurch geradezu poetisch. (Alb)Traumhafte Bilder werden detailreich gezeichnet und so manche Aussage der Charaktere geht nachhaltig unter die Haut.
- Zielgruppe(n)
Leser langsamer, nachdenklicher Romane, die Wert auf Sprache und Charakterzeichnung legen. Leute, die gerne selbst interpretieren. Im Buch stecken so viele Dinge, dass alle, die sich für eins der oben genannten Hintergrundthemen interessieren auf ihre Kosten kommen. Man sollte sich aber auch ein Stück weit für die anderen Themen öffnen, sonst wird man große Teile des Romans eher langweilig finden, da jedes Thema mal zum Zug kommt. Auch die streckenweise bewusst schwebende und gleichzeitig beschreibungslastige Erzählweise muss man vertragen. Achtung: Entgegen weit verbreiteter Vorurteile handelt es sich hier nicht wirklich (oder zumindest nicht vorrangig) um eine Liebesgeschichte und es werden auch keine ausgewogenen, gesunden Beziehungen geschildert! Im Gegenteil, die Beziehungsdynamiken sind oft kühl oder sogar grausam oder als Gegenpol von wahnhafter Intensität geprägt.
- Fazit *****
Vielschichtiger Roman, der mit all seinen Handlungsebenen gleichzeitig spielt und flüssig dazwischen wechselt. Ein Buch zum Nachdenken und Wiederlesen. Man landet hilflos in den Abgründen der menschlichen Seele und Beziehungsdynamik und leidet gemeinsam mit dem Erzählcharakter beim Versuch, den moralischen Kompass zu beobachten. Das Buch lebt von den Charakteren, ihren Unzulänglichkeiten und diversen Sehnsüchten und Enttäuschungen und ihrer Interaktion miteinander. Manchmal drastisch, manchmal poetisch, manchmal philosophisch, doch immer langsam und ein bisschen vage erzählt, bietet dieses Buch auf jeden Fall ein literarisches Leseerlebnis in eindrucksvoller Sprache.