Gleich der Autorin heißt die innerlich zerrissene Protagonistin in Fatima Daas autofiktionalem Debütroman "Die jüngste Tochter". Sie ist Französin mit algerischem Background und die Jüngste dreier Töchter. Fatima wächst im Pariser Banlieue Clichy-sous-Bois auf, ist praktizierende Muslima und angehende Autorin, doch sie hadert immer wieder mit ihrer Rolle im streng islamischen Weltbild ihrer Familie; Unter anderem liebt sie Frauen, ist sogar polyamorös - und sündigt aus islamischer Sicht damit gleich doppelt. Also versucht sie sich mit äußerlichen Zuschreibungen und Erwartungshaltungen Anderer zu identifizieren, traut sich nicht so richtig, zu sich selbst zu stehen. Und so versteckt Fatima ihre eigene Identität unter einem schützenden Gerüst aus Lügen, und versucht zeitgleich den Grat einer guten Tochter und einer selbstbestimmten Frau zu überwinden.
Ich machs kurz, ich habs in einem Rutsch gelesen und geliebt, der sehr originelle, repetive Schreibstil ist klar und flott zu lesen, entwickelt einen tollen Rhythmus und einen unheimlichen Sog. Das Buch, aus dem französischen von Sina de Malafosse übersetzt, wurde 2021 zurecht mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet. Fatima Daas erzählt von Einer, die zwischen den Stühlen sitzt. Einer, die sich im Spannungsfeld islamischer Zugehörigkeit und dem Streben nach Selbstverwirklichung befindet. Einer, die mit dem Spagat zwischen Identität, Herkunft und religiöser Moralvorstellungen zu kämpfen hat. Leseempfehlung!
Fatima Daas
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
Alle Bücher von Fatima Daas
Die jüngste Tochter
Neue Rezensionen zu Fatima Daas
Als ich zum ersten Mal meine Tage bekomme, habe ich gerade Sportunterricht.
Ich merke, dass ich ein Mädchen bin.
Ich weine.
Abends sage ich zu meiner Mutter, dass ich das nicht will.
Sie erklärt mir, dass es ganz natürlich sei.
Ich hasse die Natur. - Seite 49
Inhaltsangabe:
Ich heiße Fatima. Ich trage den Namen einer heiligen Figur des Islam. Ich trage einen Namen, den ich ehren muss.
Fatima ist das Kind, auf das keiner mehr gewartet hat, die Nachzüglerin, die einzige Tochter, die in Frankreich und nicht in Algerien zur Welt gekommen ist. Sie wächst mit ihren Schwestern in der berüchtigten Banlieue Clichy auf. Liebe und Sexualität sind in ihrer Familie ein Tabu. In der Schule ist Fatima unangepasst, laut und voller Wissensdurst. Sie hängt am liebsten mit den Jungs herum und fühlt sich falsch in ihrer Haut. Bis sie Nina trifft und ihre eigenen Gefühle für sie erkennt. Doch eine Frau zu lieben, bringt sie nicht nur in Konflikt mit ihrer Familie, ihrem Glauben, sondern auch mit sich selbst..
Als Jugendliche schaue ich meinem Vater in die Augen.
Ich sage zu ihm:
"Du bist ein Monster!"
Es ist das erste Mal, dass ich etwas so Starkes denke.
Seit diesem Tag hat er nicht mehr mit mir gesprochen und ich auch nicht mit ihm. - Seite 59
Meine persönliche Meinung:
Herzliche Gratulation an Fatima Daas, die für diesen autobiographischen Roman den internationalen Literaturpreis 2021 erhalten hat. Ein Buch, dass nur 190 Seiten hat und sich somit sehr schnell lesen lässt. Ein dünnes Büchlein, dass es jedoch in sich hat.
Ich heiße Fatima Daas.
Ich schreibe Geschichten, um meine eigene nicht zu leben. - Seite 60
Ich heiße Fatima. Ich heiße Fatima Daas.
Mit diesem Satz beginnt fast jedes Kapitel.
Fatima ist zwölf, als sie anfängt, sich wie ein Junge zu kleiden. Sie ist Französin algerischer Herkunft. Ihre Eltern und ihre beiden Schwestern sind in Algerien geboren, sie selbst in Frankreich. An einem Abend begreift Fatima, dass sie nicht die ist, die ihre Eltern erwartet haben. Die Tochter, die sie sich ausgemalt haben, der Sohn, den sie nie hatten.
Manchmal, wenn die Leute an mir zweifeln, fange ich selbst an, an mir zu zweifeln, das ist lustig, ich lüge, um ihnen recht zu geben, aber dieses Mal habe ich keine Lust, weil die Aufgabe leicht gewesen ist und mir keinen Spaß gemacht hat.
Also schweige ich. - Seite 76
Als Fatima Nina kennenlernt, merkt sie schon bald, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlt. Sie merkt aber auch, dass ihr nie beigebracht wurde, zu lieben, was es heißt geliebt zu werden. Da sie gläubige Muslimin ist, ist es ihr untersagt, homosexuell zu sein. Sie hadert mit ihrer Identität, den Konventionen und Erwartungen ihrer Familie.
"Gott hat Mann und Frau geschaffen. Gott gefällt es nicht, wenn ein Mädchen wie ein Junge aussehen will." Ausnahmsweise spricht sie französisch mit mir.
Ich antworte ihr nicht.
An dem Morgen umarme ich sie nicht.
Ich verlasse das Haus mit einem Kloß im Hals. - Seite 83
Über ihre Familie spricht Fatima nicht gerne. Ihre Mutter hat ihr bereits sehr früh beigebracht, Probleme in den eigenen vier Wänden zu lassen, da sie eine Phobie vor dem Draußen hat. Ihre Schwestern und auch sie haben jahrelang versucht die eigene Mutter zu überzeugen, sich von dessen Mann, ihrem Vater, zu trennen. Dieser Wunsch hat sich allerdings nie erfüllt, aus Angst, die Familie zu zerstören. Fatimas Schwester Dounia ist mit sechzehn zum ersten Mal abgehauen, wurde vergewaltigt und am selben Abend hat sie von ihrem eigenen Vater nichts anderes als "Schande" zu hören bekommen. Eine Schande für die ganze Familie. Ein Vater, den man selbst nicht haben möchte.
Ich finde selbst, dass es schrecklich ist, "Ich liebe dich" zu sagen.
Ich finde, es ist ebenso schrecklich, es nicht zu sagen.
Es nicht zu schaffen, sich selbst daran zu hindern. - Seite 104
Sätze, die weh tun, die mich sehr nachdenklich zurückgelassen haben. Dieses Buch ist eine Wucht und man fliegt nur so durch die Seiten. Ich habe "Die jüngste Tochter" fast in einem Rutsch durchgelesen und musste die Geschichte am Ende erst einmal sacken lassen. Furchtlos und wunderbar poetisch wird uns das Leben der Fatima Daas erzählt. Ein Schreibstil, der sehr schlicht aber auch wahnsinnig intensiv ist. Große Leseempfehlung!
Ich heiße Fatima.
Fatima ist ein weiblicher muslimischer Vorname.
Ich soll ein Mädchen sein, also fange ich an, mich in der Schule zu schminken.
Ich trage mein Haar lang.
Ich sehe immer mehr aus wie eine Frau.
Das gefällt den Jungs.
Mir gefällt es nicht. - Seite 109
"Gott hat Adam und Eva geschaffen und nicht Eva und Eva. Nach der gleichgeschlechtlichen Ehe werden wir noch die Ehe mit Tieren oder Kindern erlauben." - Seite 173-174
"Man liebt die Menschen nicht, weil sie einen zurücklieben. Man liebt sie. Das ist alles." - Seite 188
Er erzählt die Geschichte eines Mädchens, das kein richtiges Mädchen ist, das weder algerisch noch französisch ist, weder Vorstädterin noch Pariserin, eine Muslimin, glaube ich, aber keine gute Muslimin, eine Lesbe mit anerzogener Homophobie. Was noch? - Seite 190
Fatima, die jüngste Tochter algerischer Einwanderer im Banlieue Clichy, einem Vorort von Paris in Frankreich, blickt hier in diesem Buch auf ihr Leben, auf ihre Familie, auf ihr Selbstbild, auf die Gewalt und die fehlende Bildung in dieser Familie, auf die Stellung der Frau in dieser Familie, in ihrer Familie. Ist gefangen in dem Bild, dass ihre Familie von ihr hat, haben will, dem sie aber nicht entspricht, nicht entsprechen kann. Ist gefangen in dem Bild, dass das islamische Weltbild ihrer Familie ihr aufzwingt. Denn auch diesem Bild und diesen Wertvorstellungen entspricht Fatima nicht. Fatima liebt Frauen und hat ein anderes Selbstbild und ein anderes Auftreten für ihre Umgebung als ihre Familie, ihre Kultur und ihr Glauben von ihr fordern. Fatima verzweifelt über den Wertvorstellungen ihrer Außenwelt, lebt sie doch in Frankreich, wo ein anderes Leben, ein queeres Leben möglich wäre. Aber auch in Frankreich gibt es die ewig Gestrigen, gegen jene die queeren Menschen ankämpfen müssen.
Und dieser Kampf fordert Opfergaben. Wer kann schon immer ohne Folgen und Spuren auf einem Schlachtfeld stehen? Man merkt diese Spuren in einer Zerrissenheit von Fatima, einer Unsicherheit, in ihren Bindungsstörungen, ihren Zweifeln, ihrer Aggression. Denn diese so wichtige Zeit der Findung, dieses Coming of age ist bei homosexuellen Jugendlichen noch viel heftiger, noch viel intensiver. Andere können miteinander reden, Fatima kann das nicht. Fatima kann nur über eine Freundin mit anderen sprechen, anderen über diese Freundin berichten, über das Erleben dieser "Freundin" ihre Fragen stellen. Sie merkt aber schnell, dass die Gegenüber herausfinden, wer diese Freundin eigentlich ist, gefährdet sich dadurch selbst. Vorsicht ist in einer gewalttätigen und frauenfeindlichen Welt immer besser und dass weiß natürlich auch Fatima. Doch was wird sie diese Situation noch kosten?
Geschrieben wurde das Buch in einer eigenwilligen Form, gebetsartig und songtextartig wird hier das Empfinden des Hauptcharakters Fatima geschildert. Wiederholungen sind immer wieder zu finden, die fast wie ein Refrain klingen. Dennoch ist das Geschriebene recht nüchtern, zündet mich nicht an.
Obwohl das Thema dies tut. Denn ein selbstbestimmtes Leben einer Frau, einer queeren Frau mit arabischen Wurzeln ist thematisch natürlich vollkommen meins. Ihr Hadern mit sich ist nachvollziehbar, obwohl natürlich vollkommen unbegründet. Denn wo steht geschrieben, dass queere Menschen ein schlechteres Leben führen? Das Geschenk der Liebe ist das höchste Gut, was ein Mensch dem anderen Menschen schenken kann, die Liebe ist heilig! Wer wagt es an diesem Gebot, an der heiligen Liebe zu rütteln?!
Gespräche aus der Community
Community-Statistik
in 63 Bibliotheken
auf 22 Merkzettel