Ellbogen ist ein Berlin-Istanbul Roman. In der ersten Hälfte des Romans bekommen wir einen detaillierten Einblick in den Alltag der fast 18-jährigen in Berlin geborenen und aufgewachsenen Hazal, voller Frustrationen und Wut. Nach einem Streit, der tödlich endet, versucht sie in der zweiten Hälfte einen neuen Anfang in Istanbul zu machen. Beide Städte werden ebenso detailliert und realistisch wie möglich beschrieben. Ich persönlich fand die zweite Hälfte, die viele wenig erklärte Referenzen hat, viel kurzweiliger als die erste, und hätte mehr davon gewünscht. Ich möchte mich in meiner Rezension auf Istanbul konzentrieren.
ACHTUNG: Diese Rezension verrät viele Details aus dem Buch
Vor ihrem Flug nach Istanbul kannte Hazal die Türkei nur aus ihren Urlauben. Istanbul ist aber nicht Hazals erste Großstadt-Erfahrung in der Türkei. Als Kind verbrachte sie ihre Urlaube in Bursa im Westen der Türkei, wo ein Teil ihrer Familie noch lebt. Hazals Familie stammt ursprünglich nicht aus Bursa, sondern aus Kars im Osten der Türkei. Das heißt, dass Hazals Familie eine Doppelmigrationsgeschichte hat, denn sie wanderten erst in den Westen der Türkei und danach (teilweise) nach Deutschland aus.
Bursa ist die fünftgrößte und eine migrationsgeprägte Stadt mit historischen, industriellen und Naturgebieten, die einigermaßen der größten Stadt Istanbul ähnelt. Dort erlebte Hazal ihre Kindheit und Jugend unter Kontrolle ihrer Familie, und hat daher nur einen kleinen Ausschnitt der Stadt kennengelernt (sie denkt, dass ältere Frauen dort niemals allein leben würden). Trotzdem hat sie einen verklärten Blick auf die Metropole Istanbul, eine Stadt, die sie nur aus TV-Serien kennt. Das erinnert mich an einem klassischen, sogenannten „Yeşilçam“-Film, in dem die Protagonistin aus einer anatolischen Provinz nach Istanbul einwandert. Sie wird dort als Provinzlerin erst von den Städtern schlecht behandelt, aber dann verändert sie sich total (z.B ihr Akzent, ihr Kleidung), bis sogar der reiche hübsche Typ sich in sie verliebt. Solche Romantisierung von Istanbul ist in den Gesprächen von Hazal und ihren Freundinnen zu spüren. Hazal fühlt sich auch repräsentiert von der Protagonistin aus dem Film „Gegen die Wand“, die aus Deutschland ausgewandert und einen neuen Anfang in Istanbul gemacht hat. Kann Hazal im Jahr 2016 in Istanbul auch alles von vorn anfangen?
Der Zweite Teil fängt irgendwie hoffnungsvoll an, als Hazal in Kadıköy aufwacht, ein beliebtes, Stadtviertel zwischen Mittel- und Oberschicht am anatolischen (asiatischen) Ufer der Stadt. Hazal beobachtet vielfältige Menschen, einschließlich selbstständiger Frauen auf der Straße. Es ist unklar, wie Hazals Freund Mehmet, der als Arbeiter einen schlechtbezahlten Job hat, und dessen studierender Mitbewohner eine Wohnung in einer so beschäftigen Straße des Vierteils finden bzw. leisten können, aber es ist trotzdem zu schätzen, dass Aydemir die Stadt so detailliert wie möglich beschreibt. Für so eine chaotische Stadt wie Istanbul muss das nicht einfach gewesen sein. Es ist auch zu schätzen, dass Aydemir die Stereotypen und „Ost-West“ Dichotomie der Stadt thematisiert, indem sie unterschiedliche Aspekte der anatolischen und europäischen Stadtviertel von Istanbul beschreibt. Die Türkei außerhalb Istanbuls bleibt aber stereotyp gezeichnet.
In Istanbul erlebt Hazal widersprüchliche Gefühle, die wahrscheinlich nicht nur „Deutsch-Türken“ sondern alle Personen, die einmal im Ausland waren, nachvollziehen können. Wenn Gözde, eine türkische Studentin aus einer bürgerlichen Familie, sie als Deutsche und Berlinerin wahrnimmt, frustriert sie sich einerseits, weil Gözdes Berlinsehnsucht Hazals eigenen Erfahrungen und Zukunftsaussichten in Berlin nicht entspricht. Sie reagiert andererseits „sehr deutsch“, indem sie beispielsweise die Ungemütlichkeit eines Cafés bemerkt, oder wenn sie von den niedrigeren Löhnen überrascht wird. Sie fühlt sich am Ende einer Gruppe trinkgeldgebender Deutsch-Türken, die sie an ihren besten Freundinnen erinnern, am nächsten.
Hazal, die sich in Deutschland immer mit „Türkin sein“ identifiziert hat, bemerkt nun, dass sie wenig von dem Land, den Menschen und der Sprache versteht. Sie kennt alttürkische Wörter wie „Fetih“ (Eroberung Istanbuls durch das osmanische Reich) nicht und hat Mühe, die Nachrichten zu verstehen. Sie entdeckt einen neuen Teil ihrer Identität und erfährt den Ernst der politischen Lage. Bei Aydemirs Romanen ist es besonders spannend, dass die Erzählung sich stark auf echten Ereignissen stützt. Das Buch „Dschinns“ hatte mich unvorbereitet erwischt, deswegen habe ich dieses Mal aufmerksam gelesen und wusste sofort, was passieren würde.
Hazal liest in den Nachrichten über Gewalt gegen Frauen und erfährt auch über den Fall von Çilem Doğan, die im Juni 2016 wegen Mordes an ihrem Mann verurteilt wurde. Doğan hat sich verteidigt, dass sie in Notwehr gehandelt hatte, weil sie von ihrem Mann schwer misshandelt worden war und keinen wirksamen Rechtsschutz bekommen hatte. Als sie verhaftet wurde, zog sie ein T-Shirt mit den aufgedruckten Worten: "Dear past, thanks for all the lessons. Dear future, I am ready". Beeindruckt von Doğans Fall zieht Hazal Parallelen zu ihrem eigenen Leben. Sie meint, dass sie während des tödlichen Streits in Berlin auch aus Notwehr handelte, weil auch sie strukturelle Diskriminierung erfahren hatte. Diese zu weitgehende Vergleichung ist nicht nachvollziehbar, besonders wenn man denkt, Hazal sich aus Wut und Rachegefühl statt Selbstschutzgefühl gehandelt hat und auch nicht versucht hat, die schlimmsten Folgen zu vermeiden. Ohne dass sie sich mit ihrer Vergangenheit und ihrem Schamgefühl auseinandersetzt und die moralische Verantwortung übernimmt, lässt sich schwer sagen, dass sie wirklich „ready“ für ihre Zukunft ist.
Im Juni 2016 überlebt Hazal einen Terroranschlag im Altstadtviertel Sultanahmet, einer von mehreren Anschlägen in den Jahren 2015-2016. Als ich später nachgeschaut habe, habe ich bemerkt, dass dieser Anschlag eigentlich fünf Monate früher, im Januar, stattgefunden hatte. Im Juni fand der Anschlag im Atatürk-Flughafen statt, der nicht in Hazals Geschichte integriert wurde. Ellbogen reflektiert jedoch den Zeitgeist realistisch. Ein paar Wochen nach dem Anschlag erlebt Hazal die Nacht des Putschversuches am 15. Juli. Da sie das Wort „darbe“ (Putsch) nicht versteht, bekommt sie nicht mit, was tatsächlich passiert und befindet sich in einer gefährlichen Situation.
Es wird klar, dass alles von vorn anzufangen praktisch nicht möglich ist, weil man seine Vergangenheit immer mit sich trägt. Ellbogen ist weder eine Geschichte mit einem „Feelgood“-Effekt, noch versucht sie, eine sympathische Protagonistin zu bilden. Vielmehr erzählt der Roman direkt und kompromisslos, wie die Stereotypen, Selbstbild und Selbsteinschätzung einen Menschen zerstören und zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung führen können. Ellbogen ist ein Roman für die Leser:innen, die sich für diese harten Realitäten interessieren.