Oft liest man in Büchern über Angela Merkel, sie wurde von ihren Parteifreunden oder Gegnern unterschätzt. Endlich traut sich einmal ein Autor zu behaupten, dass sie eher überschätzt wird. Sieht man sich Merkels Karriere nämlich etwas genauer an, dann sollte man sich wohl eher heftig wundern, wie sie es überhaupt so weit schaffen konnte.
Merkel hat in der DDR ihr Abitur abgelegt und dann Physik studiert. Anschließend wurde sie promoviert. Dann kam die Wende, und Merkel wusste sehr schnell, dass ihre wissenschaftliche Karriere zu Ende war. Sie traf eine für sie persönlich fast schon geniale Entscheidung: Nur in der Politik war aus ihrer Sicht eine schnelle und erfolgreiche neue Karriere im wieder vereinigten Deutschland möglich. An dieser Stelle zeigt sich ein entscheidender Grund für ihre unglaublichen weiteren Weg: Sie besitzt eine ausgeprägte analytische Intelligenz, die sich mit einer mutigen und konsequenten Entscheidungskraft in für sie kritischen Situationen verbindet. Sie wanderte zunächst zur SPD. Dort wurde ihr erklärt, dass sie sich hinten anzustellen habe. Das war nicht Merkels Ding. So kam sie zu einer unbedeutenden Splittergruppe, dem Demokratischen Aufbruch, der später von der CDU geschluckt wurde. Allerdings war der DA klein genug, um eine schnelle Karriere zu fördern. Man kannte sich in Kirchenkreisen der DDR. Merkels Vater und der letzte Ministerpräsident gehörten zu eben diesen Zirkeln. So wurde sie eine der Pressesprecherinnen des Regierungschefs. Das Weitere ist bekannt.
Weniger bekannt sind Merkels Befähigungen für die große Politik, sieht man einmal von ihrem in der DDR erlernten Durchsetzungsvermögen ab, was der zweite Treibsatz für ihre unglaubliche Karriere war. Zu einem Physikstudium gehörten in der DDR vier Semester Marxismus-Leninismus. Später war Merkel Sekretärin für Agitation und Propaganda in irgendeiner kleinen FDJ-Gruppe. Darauf wird immer herumgeritten, obwohl das ein völlig harmloser Posten war, bei dem man lediglich das monatliche FDJ-Lehrjahr unter Anleitung von oben vorbereiten musste. Viel interessanter ist eine andere Schlussfolgerung: Merkel hat kein belastbares Wissen auf anderen Gebieten als der Physik. Von Ökonomie hat sie keine Ahnung, von Geschichte ebenso wenig. Das belegt der Autor dieses Buches übrigens auch mit einer Randnotiz. Merkel vermeidet mit großer Sorgfalt Aussagen, die auf ihre Defizite schließen lassen würden. Sie weicht jeder Frage aus, die auf ihre politische Haltung zielt.
Merkel, so das Fazit dieses Buches, ist eine entpolitisierte Figur, eine technokratische Karrieristin, die beweist, dass man auch ohne Befähigung auf irgendeinem politisch relevanten Fachgebiet in Deutschland in eine schicksalhafte Führungsrolle aufsteigen kann. Immerhin steht sie damit nicht völlig alleine da. Es gibt viele Stellen in diesem Buch, an denen der Autor immer wieder auf Merkels Defizite eingeht. Beispielsweise so: "Eine Regierungschefin, die im Duktus einer Sozialpädagogin doziert, wie man anderen Menschen vorurteilsfrei gegenüber zu treten habe, das ist eigentlich höchst komisch und unpassend. Doch offenbar nimmt es niemand übel, wenn die Kanzlerin die kategorischen Unterschiede zwischen Politik und privater Alltagsmoral einerseits und Politik und Management andererseits entweder absichtsvoll verwischt oder überhaupt nicht kennt." Genau diese Unkenntnis in Verbindung mit ihrem wenig eitlen Wesen macht sie in Teilen ihrer Partei, in die sie nie im Leben eintreten wollte, und in Teilen der Bevölkerung beliebt. Sie erscheint wie eine aus dem Volk.
Das Buch besteht aus vier Kapiteln. Wer sich nur für die Analyse Merkels interessiert, kann nach Ansicht des Autors die ersten beiden Teile überfliegen. Ich kann das nicht empfehlen und habe diese beiden Kapitel gelesen. In ihnen beschreibt Knauß die Lage im Merkel-Deutschland der Gegenwart und Merkels Bilanz nach 13 Jahren. Deutschland geht es gut, ist einer von Merkels Kalendersprüchen. Doch dieses Bild täuscht. Unter Merkels Kanzlerschaft sind Rechnungen entstanden, die irgendwann bezahlt werden müssen. Das Merkelsche Credo vom Zeitkaufen war schon teuer genug. Die dabei ins Uferlose getriebenen Risiken und zukünftige Verpflichtungen sind gigantisch. Nur sind sie noch nicht für Menschen sichtbar, die sie nicht sehen können oder wollen. Aber sie sind da. Das ist unter anderem der Inhalt des zweiten Kapitels.
Die beiden anschließenden Analyse-Kapitel befassen sich mit zwei Fragen: Warum regiert diese Kanzlerin noch? Und warum passt sie nicht mehr in unsere Zeit. Der Autor ist der Meinung, dass es dringend einer Rückkehr des Politischen bedarf. Das Ende der Illusionen sei das Ende des Merkelismus. Doch sind die Illusionen tatsächlich bereits am Ende? Merkels Abgang kann sich noch lange hinzögern. Und ob mit ihr auch ihr System geht, ist eine andere nicht ganz unwichtige Frage. Die von Knauß mehrmals erwähnten über zehn Minuten anhaltenden Klatschorgien auf den letzten CDU-Parteitagen erinnern nicht nur an ähnliche Ereignisse in der DDR, sondern lassen auch erhebliche Zweifel an der Erneuerungsfähigkeit dieser Partei aufkommen. Schließlich nimmt Merkel diese Funktionärselite aus einer offenbar anderen Welt nicht mit in ihren Ruhestand.
Obwohl Henry Kissinger Merkel nicht für eine "transcendent figure", sondern nur für "very local" hielt, ist es dieser Kanzlerin gelungen, nicht nur ihr eigenes Land tief zu spalten, sondern auch Europa. Um das wieder in Ordnung zu bringen, wird es wohl wesentlich mehr brauchen als nur einen Wechsel im Kanzleramt. Wo das herkommen soll, bleibt unbeantwortet.
Die sehr gute Analyse dieser Kanzlerin und der aktuellen politischen Situation, die man in diesem Buch vorfindet, wird ein wenig dadurch getrübt, dass offenbar gewisse Sprachregelungen auch bis zum Verstand des Autors vorgedrungen sind. Die Bürger seien "verunsichert" und "ängstlich", schreibt er mehrfach. So spricht man über Kinder, denen man die Welt noch erklären muss. Und dann ist da noch dieser unsägliche Begriff "Populismus", den auch der Autor gerne benutzt. Man muss sich schon entscheiden, ob man den Bürger ernst nimmt oder ihn für ein wenig unterbelichtet hält. Denn nichts anderes drückt der Populismus-Begriff aus: Populisten sind diejenigen, die mit einfachen Antworten das dämliche Volk auf ihre Seite ziehen wollen. Diese für das Buch eher unbedeutende Kritik stellt seine hervorragende Analyse jedoch überhaupt nicht infrage. Es ist ein sehr empfehlenswerter Text, der den Kern des Merkelismus geradezu perfekt offenlegt.